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Nachdenken nach dem Fall Relotius
Aus Rendez-vous vom 07.06.2019. Bild: SRF. Marc Lehmann
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Erfundene Geschichten «Der Spiegel» ist am Fall Relotius mitschuldig

Es brauchte einen geeigneten Nährboden, damit Claas Relotius mit seinen Geschichten durchkam. Diesen bot «der Spiegel».

«Zunächst bemühte sich der ‹Spiegel›, den Fall stark auf den fehlbaren Kollegen zu fokussieren», sagt Horand Knaup, der selbst fast 20 Jahre für das Hamburger Nachrichtenmagazin gearbeitet hat. «Doch er konnte seine Geschichten nur auf einem Nährboden erfinden, den ihm der ‹Spiegel› bereitet hatte.»

Claas Relotius war zum Beispiel 38 Tage in der US-Kleinstadt Fergus Falls, um die Trump-Wähler zu ergründen und kam mit einer weitgehend frei erfunden Geschichte nach Hause. Jetzt hat das Hamburger Nachrichtenmagazin den Fall Relotius immerhin umfassend aufgearbeitet. Die Erkenntnisse im jüngst publizierten Abschlussbericht sind schockierend.

Schwindeln «bis zu einem gewissen Grad» erlaubt

Beispiel: An einer Journalistenschule habe es einen Kurs mit dem Titel «Ist Schwindeln erlaubt?» gegeben. Darf es in einer Reportage konkret eine Kunstfigur geben, die eine Mischung mehrerer Personen ist? Oder darf man eine Woche auf einen Tag verdichten?

Ein Stapel des Magazins «Der Spiegel».
Legende: Der «Fall Relotius» ist ein «Fall Spiegel», zeigt der Bericht. imago

Darf man suggerieren, man sei vor Ort, obwohl das nicht stimmt? Dürfen störende Fakten weggelassen werden? – Das sind gute Fragen, doch die Antwort darauf ist schockierend: Ja, man dürfe das in einem gewissen Umfang, sagten gestandene Journalisten, die im Seminar Auskunft gaben.

Reporter Knaup weiss aus jahrzehntelanger «Spiegel»-Erfahrung, dass es vorkommen konnte, dass wichtige Akteure in einem Artikel keine oder kaum eine Rolle spielten, «weil sie sich nicht in einen Erzählfluss eingefügt haben».

Hilfsmittel auch aus dem Film

Im Reporterforum, einem vom «Spiegel» initiierten jährlichen Workshop, wurde gelehrt, dass man sich «aus dem Werkzeugkasten des Films, der Comics und der Literatur, also der Fiktion», bedienen darf, schreibt der «Spiegel» wörtlich in seinem Abschlussbericht.

Im Extremfall von Claas Relotius hiess das für seine USA-Geschichte: Ein Schild am Stadtrand, auf dem stand «Mexikaner unerwünscht», kannte nur er selbst. Die einzige Mexikanerin im Ort, die angeblich Trump gewählt habe, war nicht stimmberechtigt. Und angeblich schaufelten Arbeiter neun Stunden täglich von Hand Kohle, um das örtliche Kraftwerk zu heizen.

Dichten statt verdichten

Relotius bediente und überhöhte Klischees, wo ein richtiger Reporter doch interessiert sein müsste, Dinge zu erfahren, die er nicht erwartet hätte. Auf den Punkt gebracht: Es ging nicht darum, die Quintessenz von 38 Tagen in Fergus Falls zu extrahieren. Es ging nicht ums verdichten, sondern ums dichten.

Gedeihen konnte der Extremfall Relotius im männerdominierten Gesellschaftressort des «Spiegels», wo die langen, schönen Reportagen aus dem Ausland geschrieben wurden. Sie liessen sich nur schwer überprüfen, obwohl sich beim «Spiegel» mehr als 50 Leute allein mit der Faktenüberprüfung befassen. Wie soll man überprüfen, was jemand angeblich denkt?

Qualitätsmedien werden vorsichtiger

Nach dem Fall Relotius habe in den grossen deutschen Printmedien immerhin ein Nachdenken eingesetzt, beobachtet der Journalist. So werde im «Spiegel» oder auch in der «Zeit» mit den Quellenangaben ganz anders umgegangen, als noch vor einem Jahr. «Das ist ein ganz anderer Stil, ein anderer Ton.»

Bekanntlich ist der Blick in den «Spiegel» für jeden Journalisten in Deutschland unerlässlich, sobald das Magazin online ist. Seit dem Fall Relotius hat dieser Satz eine neue Bedeutung.

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