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«Schockiert über Massengräber» Carla Del Ponte: «Putin ist ein Kriegsverbrecher»

Die ehemalige Chefanklägerin Carla Del Ponte ist schockiert über die Entdeckung von Massengräbern in der Ukraine. Sie beschuldigt im Interview mit swissinfo.ch den russischen Präsidenten Wladimir Putin des Verbrechens der Aggression. Von diesem Tatbestand ist ihrer Meinung nach bereits erwiesen, dass er erfüllt sei.

Carla Del Ponte

Carla Del Ponte

Ehemalige UNO-Chefanklägerin

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Carla Del Ponte war die erste Schweizer Bundesanwältin. International bekannt wurde sie als Chefanklägerin des Internationalen Strafgerichtshofs für das ehemalige Jugoslawien wie auch für Ruanda. Von 2008 bis zu ihrer Pensionierung 2011 war Del Ponte Schweizer Botschafterin in Argentinien. Anschliessend untersuchte sie als UNO-Sonderberichterstatterin die Menschenrechtsverletzungen in Syrien.

2008 veröffentlichte sie ihre Memoiren «Im Namen der Anklage», in denen sie ihre Erfahrungen als Chefanklägerin beschreibt. Das Buch wurde damals kontrovers diskutiert. Del Ponte behauptete darin, Kosovo-Albanerinnen und -Albaner hätten mit geraubten Organen serbischer Gefangener Handel betrieben.

swissinfo.ch: In mehreren Medien wurden Bilder veröffentlicht, die Beweise für Kriegsverbrechen der russischen Armee in der Ukraine darstellen könnten. Kann sich Wladimir Putin Ihrer Meinung nach einem Prozess vor einem internationalen Strafgericht entziehen?

Carla Del Ponte: Im Prinzip nicht. Der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) in Den Haag hat bereits eine Untersuchung wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit eingeleitet, die in der Ukraine von der russischen Armee begangen wurden. Putin kann für diese Verbrechen zur Verantwortung gezogen werden.

Carla Del Ponte an einem Rednerpult
Legende: Auch im Ruhestand meldet sich Carla Del Ponte weiterhin zu Wort. Wie hier am Monte-Verita-Literaturfestival in Ascona im Kanton Tessin im April 2022, wo sie sich zum Krieg in der Ukraine äusserte. Keystone/Archiv/ALESSANDRO CRINARI

Das schwerwiegendste Verbrechen, dessen er angeklagt werden könnte, ist das Verbrechen der Aggression [Angriffshandlung gegen die Souveränität oder territoriale Unversehrtheit eines Staats, Anmerkung der Redaktion].

Dies ist ein Verbrechen, das der IStGH aber nicht verurteilen kann [Russland hat das Römische Statut, in dem dieses Verbrechen definiert ist, nicht unterzeichnet, A.d.R.]. Deshalb müsste die internationale Gemeinschaft ein spezielles Gericht bilden. Dieser Punkt wird auf internationaler Ebene noch diskutiert – bislang ohne Einigung.

Die Ukraine hat bereits damit angefangen, Personen auf ihrem Territorium vor Gericht zu stellen. Wenn die Ermittlungen des IStGH zu Anklagen führen, wäre es dann möglich, dass der Gerichtshof parallel dazu ein Verfahren in Den Haag durchführt, wie beispielsweise bei der Verurteilung von Kriegsverbrechern aus dem ehemaligen Jugoslawien?

Natürlich wäre es möglich, dass der IStGH damit beginnt, Haftbefehle zu veröffentlichen. Die Ukraine würde sich um die weniger wichtigen Verbrechen kümmern – was nicht bedeutet, dass diese weniger schwerwiegend sind.

Viele trauen sich politisch nicht, den Begriff Völkermord im Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg zu verwenden. Ich halte das für richtig, auch ich würde den Krieg in der Ukraine nicht als Genozid bezeichnen.

Gleichzeitig würde sich der Internationale Strafgerichtshof mit Ermittlungen zu Verbrechen befassen, die von hochrangigen russischen Politikern und Armeeangehörigen begangen wurden.

Kann man Putin als Kriegsverbrecher bezeichnen?

Er ist ein Kriegsverbrecher, ganz klar. Ich sehe Analogien zu Slobodan Milosevic [ehemaliger Präsident Serbiens, der vom IStGH angeklagt wurde, weil er den Völkermord in Bosnien nicht verhindert hatte, A.d.R.].

Wenn Putin die Ukrainerinnen und Ukrainer als Terroristinnen und Terroristen bezeichnet und sich gleichzeitig selbst damit brüstet, den Terrorismus zu bekämpfen – das ist genau dasselbe, was Milosevic damals [in den 1990er-Jahren] sagte.

Die Politik vermeidet es, den Begriff «Völkermord» für die Ermordung von Ukrainerinnen und Ukrainern durch die russische Armee zu verwenden. Was ist der Grund für diese Zurückhaltung?

Das Wort Völkermord hat eine spezifische Bedeutung [eine nationale, ethnische oder religiöse Gruppe zerstören oder auslöschen wollen, A.d.R.]. Gemäss Völkerrecht muss man eine Absicht und einen Willen dafür nachweisen.

Video
Archiv: UNO-Menschenrechtsrat zu den Kriegsverbrechen
Aus 10 vor 10 vom 02.12.2022.
abspielen. Laufzeit 2 Minuten 41 Sekunden.

Diesen Beweis zu erbringen, ist komplex. Viele trauen sich politisch nicht, den Begriff Völkermord im Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg zu verwenden. Ich halte das für richtig, auch ich würde den Krieg in der Ukraine nicht als Genozid bezeichnen.

Kann man von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit sprechen?

Solche werden beobachtet, das ist klar. Aber auch hier würde ich nicht von Völkermord sprechen. Das würde eine viel gründlichere Untersuchung erfordern.

Wie kann man einen mutmasslichen Kriminellen festnehmen? Muss der russische Staat kooperieren? Braucht es einen Machtwechsel?

Dafür müssen viele Bedingungen erfüllt sein. Zunächst einmal muss Frieden herrschen. Der Krieg muss beendet sein; die Justiz kann parallel zu einem Friedensprozess voranschreiten.

Für das Verbrechen der Aggression ist Putin verantwortlich. Das ist bereits bewiesen.

Die Justiz kann aber auch etwas sein, das den Frieden fördert. Schauen wir uns an, was im ehemaligen Jugoslawien mit Milosevic passiert ist: Er war immer noch Präsident, während die Friedensgespräche [in Rambouillet, Frankreich, A.d.R.] stattfanden. Aber er war nicht anwesend.

Warum war er nicht dabei? Weil er wusste, dass gegen ihn international ermittelt wurde und ein Haftbefehl gegen ihn vorliegen könnte. Er wusste nicht, ob es tatsächlich einen solchen gab, aber er kannte das Risiko. Die Tatsache, dass gegen Milosevic ermittelt wurde, erleichterte die Gespräche über ein Friedensabkommen.

Die Ukraine fordert mit Nachdruck ein Sondertribunal für das Verbrechen der Aggression durch Russland. Warum ist das für sie wichtig?

Weil das Verbrechen der Aggression bereits bewiesen ist und keine anderen Beweise erfordert als jene, die wir bereits haben. Für dieses Verbrechen ist Putin verantwortlich. In seinen Reden hat er zugegeben, dass er der Befehlshaber der Armee ist und die Aggression gegen die Ukraine angeführt hat.

Glauben Sie, dass soziale Netzwerke und die vielen Erfahrungsberichte, die bereits gesammelt wurden, die laufenden und künftigen Ermittlungen erleichtern würden?

Die sozialen Netzwerke sind vor allem wichtig, um Beweise für die Verbrechen zu sammeln. Sie werden dabei helfen, herauszufinden, welche Militäreinheit verantwortlich war. Danach kann man zurückverfolgen, wer die hochrangigen politischen und militärischen Verantwortlichen waren.

Die Zivilbevölkerung leidet am meisten unter diesem Krieg.

Die Zusammenarbeit der ukrainischen Regierung mit der Justiz erleichtert die Untersuchung der in der Ukraine begangenen Kriegsverbrechen. Im ehemaligen Jugoslawien hatten wir keine Zusammenarbeit mit den Behörden des Landes. Das machte die Beweiserhebung sehr schwierig.

Was hat Sie an diesem Krieg bisher am meisten schockiert?

Die Massengräber. Das ist etwas Unvorstellbares. Massengräber bedeuten, dass alle zivilen Opfer zusammen begraben wurden. Es wird schwierig sein, sie herauszuholen. Um herauszufinden, ob es sich um Zivilpersonen oder Soldaten handelte, müssen Untersuchungen, Autopsien und DNA-Analysen durchgeführt werden.

Serie: Experten zu Kriegsverbrechertribunal gegen Russland

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Illustration
Legende: SWI

SWI swissinfo.ch hat in einer Interviewreihe verschiedene Experten zur möglichen Einrichtung eines Kriegsverbrechertribunals in Den Haag gegen Russland befragt. SWI gaben Auskunft: die ehemalige UNO-Chefanklägerin des Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien Carla Del Ponte, die US-Botschafterin für globale Strafjustiz Beth Van Schaack, der ehemalige französische Botschafter in Kopenhagen und Rechtsanwalt François Zimeray und der Genfer Anwalt und Autor Philippe Currat.

Viele der Opfer wurden mit ihren Personalausweisen begraben, was die Identifizierung natürlich erleichtert. Die Zivilbevölkerung leidet am meisten unter diesem Krieg.

Die russische Propaganda versucht, den Eindruck zu erwecken, dass die Massengräber von den ukrainischen Behörden selbst angelegt wurden. Was sagen Sie dazu?

Ich würde sagen, dass die Ermittlungen diese Versionen sehr bald ausschliessen werden. Wenn man eine ernsthafte Untersuchung durchführt, wird es keine Zweifel mehr über die Täterschaft geben. Es genügt, ein Opfer zu identifizieren, um dies zu verstehen. Die Identifizierung von Opfern ist der erste Schritt jeder Untersuchung.

Die unabhängige internationale Untersuchungskommission der Vereinten Nationen hat Beweise für Hinrichtungen, Vergewaltigungen, Folterungen und Morde – auch an Kindern – in Butscha, Mariupol, Odessa und 30 anderen ukrainischen Städten gefunden. Welches Gremium soll diese Verbrechen verfolgen? Der IStGH?

In erster Linie muss sich die Generalstaatsanwaltschaft der Ukraine um die Ermittlungen kümmern. Soweit ich weiss, hat die Ukraine dies bereits getan. Ich habe gehört, dass ein ukrainisches Gericht bereits einen russischen Militärangehörigen verurteilt hat. Doch das ist natürlich nur ein erster Schritt.

Nein, es gibt keine Fälle von Bestechung von Schweizer Justizpersonen.

Der IStGH müsste rasch Untersuchungen durchführen können. Die beste Lösung dafür wäre ein spezielles Gericht für die in der Ukraine begangenen Verbrechen. Aber das ist aufgrund des Vetorechts Russlands im Sicherheitsrat schwer zu erreichen.

Wenn dieses Tribunal eingerichtet werden soll, ist das Veto von China und Russland im Sicherheitsrat unvermeidlich. Müsste man nicht das gesamte UNO-System überdenken und andere Lösungen finden?

Ja, natürlich, aber das ist im Moment leider nicht möglich. Wir haben es hier mit einer Schlüsselinstitution zu tun, die sehr wichtig war und es immer noch ist. Sie hat aber in der aktuellen Situation nur sehr wenig Macht.

Noch eine Frage zur Schweiz: Im Jahr 2020 hatte der russische Oppositionspolitiker Alexei Nawalny nach einer seiner Untersuchungen behauptet, der Schweizer Bundesanwalt Michael Lauber habe Geschenke von Russland erhalten. Im Gegenzug habe er keine Ermittlungen zur Geldwäsche russischer Beamter bei Schweizer Banken eingeleitet...

Keine Magistratsperson in der Schweiz lässt sich bestechen. Ich weiss, wovon ich spreche. Ich kenne das Milieu, ich kenne meine Kolleginnen und Kollegen, ich kenne das System. Nein, es gibt keine Fälle von Bestechung von Schweizer Justizpersonen.

Das Gespräch führte Swissinfo-Journalistin Elena Servettaz, die Übertragung aus dem Französischen erstellte Christian Raaflaub.

Echo der Zeit, 15.1.23, 18:00 Uhr;

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