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Europawahl 2024 Satiriker Nico Semsrott: «Das EU-Parlament machte mich depressiv»

An diesem Wochenende ist Wahltag in der Europäischen Union. 400 Millionen Menschen entscheiden, welche 750 Abgeordneten sie für die nächsten fünf Jahre nach Brüssel schicken. Nico Semsrott allerdings wird nicht mehr kandidieren. Der Satiriker und Politiker war nun fünf Jahre Abgeordneter im EU-Parlament. Er ist ziemlich froh, dass es vorbei ist.

Nico Semsrott

Deutscher Kabarettist, Satiriker, Slam-Poet und Politiker

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2019 wählte Deutschland den Komiker Nico Semsrott ins EU-Parlament. Erst für «DIE PARTEI», später parteilos. Anstatt erneut zu kandidieren, veröffentlicht er jetzt ein Buch: «Brüssel sehen und sterben: Wie ich im Europaparlament meinen Glauben an (fast) alles verloren habe».

SRF: Sie sagen, dass die Zeit im EU-Parlament eine der deprimierendsten Phasen Ihres Lebens war. Was hat Sie so erschüttert?

Nico Semsrott: Das Spannungsfeld zwischen Machtposition und gefühlter Ohnmacht, also bei Entscheidungen von globaler Bedeutung dabei zu sein und mit einem Stimmenanteil von 0.14 Prozent nichts bewirken zu können. Das hat mich wahnsinnig gemacht. Mein persönliches Trigger-Thema sind die Regeln für die Transparenz.

Wo liegen die Probleme bei den Transparenzregeln?

Es gibt viele Möglichkeiten des Missbrauchs. Ein gutes Beispiel ist der Umgang mit Spesen. Viele Pauschalen müssen nicht belegt werden. Ein Abgeordneter könnte zum Beispiel eine Bürokostenpauschale von 300'000 Euro fünf Jahre lang einfach in die eigene Tasche stecken, da er nie Auskunft über die tatsächlichen Ausgaben geben muss. Das ist ein absurdes System. Je weniger man für die eigentliche parlamentarische Arbeit ausgibt, desto mehr verdient man selbst.

Mit meinem satirischen Ansatz habe ich versucht, mehr Öffentlichkeit zu schaffen.

Sie bezeichnen ihre Zeit im EU-Parlament als Versuch und als Experiment. Ihr Mandat kostet den Steuerzahler aber über eine Million Euro. Finden Sie das fair?

Ja. Alles, was wir Menschen versuchen, ist ein Experiment. Jeder demokratische Prozess, jede Oppositionsarbeit, jeder Gesetzesentwurf ist ein Experiment. Wir Menschen sind nicht so klug, dass wir die Zukunft vorhersagen könnten, und deshalb werden zwangsläufig auch Fehlentscheidungen getroffen. Ich finde es vertretbar, dass ich einen anderen Kommunikationsstil in der Politik ausprobieren wollte. Mit meinem satirischen Ansatz habe ich versucht, mehr Öffentlichkeit zu schaffen. Und wenn ich mir die Resonanz anschaue, scheint das auch gelungen zu sein.

Person im Kapuzenpullover im Plenarsaal des Europäischen Parlaments.
Legende: Nach fünf Jahren in Strassburg rechnet der Satiriker mit der Europapolitik ab. Reuters/VINCENT KESSLER

Wieso haben Sie in Ihrer Legislatur politisch nicht mehr bewirkt?

Als Satiriker und Künstler hatte ich nicht das Talent dazu. Das ist das Spannungsfeld, in dem ich mich tragischerweise befand. Als Satiriker geht es mir um Schwarz und Weiss, als Politiker musste ich mich ständig in Grautönen bewegen und Kompromisse finden. Und aus diesem Spannungsfeld bin ich nicht herausgekommen.

Die ganze Zeit überlegte ich, ob ich das Experiment abbrechen sollte.

Sie schreiben auch über Ihre Depressionen. Wie haben sich diese im Laufe der Zeit entwickelt?

Ich habe grundsätzlich eine Neigung zu Depressionen, und meine Rolle in Brüssel hat das extrem verstärkt. Viele Dinge kamen zusammen. Die Corona-Pandemie, die damit einhergehende Isolation, oder Angestellter von 900’000 Wählerinnen und Wählern zu sein. Das alles hat mich überfordert. Ich lag im Bett, konnte nicht mehr aufstehen und nicht an den Debatten im EU-Parlament teilnehmen. Die ganze Zeit überlegte ich, ob ich das Experiment abbrechen sollte. Meine Psychotherapeutin, die ich in dieser Zeit aufsuchte, riet mir, durchzuhalten. Das war richtig. Denn ich habe meine Aufgabe als Abgeordneter trotz aller Satire ernst genommen.

Welches Fazit ziehen Sie?

Bei aller Kritik, die Europäische Union ist ein wunderbares demokratisches Experiment. Dass 27 Länder gemeinsam ein Parlament wählen, ist einmalig. Die EU ist wie die UNO, nur mit Macht.

Das Gespräch führte David Karasek, Mitarbeit: Géraldine Jäggi.

SRF 4 News, 07.06.2024, 13 Uhr ; 

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