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Flüchtlinge in der Türkei «Erdogan hat sich mit seiner Syrienpolitik verrechnet»

Die türkischen Behörden wollen bis zu 250'000 Syrer aus Istanbul weghaben. Damit wolle die Regierung die Wählerinnen und Wähler besänftigen, sagt der Journalist Thomas Seibert.

Thomas Seibert

Journalist in der Türkei

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Thomas Seibert verdiente sich seine journalistischen Sporen bei der «New York Times» und den Nachrichtenagenturen Reuters und AFP, bevor er 1997 als freier Journalist in die Türkei ging. Nach einem kurzen Zwischenhalt als Berichterstatter in den USA kehrte er im Juni 2018 nach Istanbul zurück.

SRF News: Bis Ende Oktober hätten in Istanbul lebende syrische Flüchtlinge ohne Aufenthaltsbewilligung in jene Orte zurück sollen, in denen sie bei ihrer Ankunft in der Türkei erstmals registriert wurden. Wie ist der Stand der Rückführaktion?

Thomas Seibert: Der türkische Innenminister sagte, es seien inzwischen 60'000 Syrerinnen und Syrer aus Istanbul weggebracht worden. Das Istanbuler Gouverneursamt dagegen sprach vor zwei Wochen von 6000 Personen. Deshalb ist nicht ganz klar, wo genau man derzeit steht.

Hunderttausende Syrer in Istanbul

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Allein in der 15-Millionenmetropole Istanbul leben bis zu 800'000 Flüchtlinge aus Syrien. Rund 250'000 von ihnen haben keine Aufenthaltsbewilligung für die Stadt. Sie hätten Istanbul deshalb bis Ende Oktober verlassen und in jene Orte zurückkehren sollen, die denen sie einstmals registriert worden sind. Das hatten die türkischen Behörden schon vor mehreren Monaten verfügt. In der Türkei leben insgesamt und 3.6 Millionen Syrerinnen und Syrer, die in den vergangenen acht Jahren vor dem Krieg geflohen sind.

Wie gehen die Behörden bei den Rückführungen vor?

Die Polizei versucht die Syrer bei Razzien und Strassenkontrollen zu identifizieren. Für die Betroffenen ist es eine sehr schwierige Situation: Sie sind nach Istanbul gekommen, weil es hier einfacher ist, einen Arbeitsplatz oder eine Wohnung zu finden. Das alles müssen sie jetzt wieder aufgeben.

Wieso wollen die Behörden die Syrer aus der Stadt haben?

Die türkische Bevölkerung – auch die in Istanbul – hat den Massenzustrom an syrischen Flüchtlingen in den vergangenen Jahren mit bemerkenswerter Gastfreundschaft und viel Verständnis aufgenommen.

Die Stimmung gegenüber den syrischen Flüchtlingen ist wegen der Wirtschaftskrise gekippt.

Doch die Stimmung ist wegen der Wirtschaftskrise gekippt. Unter den jungen Türken steigt die Arbeitslosigkeit, was zu Ressentiments gegenüber den Syrern führt. Es geht dabei um Arbeitsplätze, um Wohnungen und um Gerüchte, wonach die Syrer vom türkischen Staat mehr Unterstützung erhielten als Türken. Das alles schafft böses Blut.

Hoffen die Behörden also, mit den Rückführungen die feindliche Stimmung zu entschärfen?

Genau. Sowohl Präsident Erdogan wie auch die oppositionelle Istanbuler Stadtregierung wollen dadurch die türkischen Wählerinnen und Wähler besänftigen. Übrigens gehen den Polizisten bei den Razzien und Ausweiskontrollen neben Syrern ohne Aufenthaltsberechtigung für Istanbul auch viele andere Flüchtlinge und Migranten ins Netz, vor allem Afghanen. Diese sollen in ihre Heimatländer zurückgeschafft werden.

Viele Syrer möchten möglichst rasch wieder zurück in ihre Heimat.

Syrerinnen und Syrer werden auch in ihre Heimat zurückgeführt. Was weiss man über die Zwangsabschiebungen?

Im Sommer wurden nachweislich mehrere Hundert Syrer gegen ihren Willen zurückgeschafft. In der Tat aber wollen viele Syrer möglichst rasch wieder in ihr Heimatland. Sie kommen in der Türkei nicht zurecht, das Leben ist ihnen hier zu teuer und sie vermissen die Verwandten in Syrien. Viele der laut den Behörden nach Syrien zurückgebrachten 350'000 Syrer kehrten deshalb wohl freiwillig zurück.

Präsident Recep Tayyip Erdogan droht Europa mit einer neuen Flüchtlingswelle, innerhalb der Türkei werden sie umgesiedelt, manche nach Syrien zurückgeschafft. Macht Erdogan mit den Flüchtlingen Politik?

Er ist in der Flüchtlingsfrage eher ein Gejagter. Erdogan ging nach Ausbruch des Syrienkriegs 2011 davon aus, dass der dortige Herrscher Baschar al-Assad rasch gestürzt würde. In der Annahme, dass die Krise in Syrien rasch vorbei wäre, öffnete er die Grenze für Flüchtlinge und unterstützte die Anti-Assad-Rebellen. Doch diese Annahme erwies sich als falsch. Inzwischen wollen viele Syrer, die schon länger als fünf Jahre in der Türkei leben, gar nicht mehr nach Syrien zurück. Erdogan hat sich mit seiner Syrienpolitik also verrechnet und versucht jetzt, das beste daraus zu machen.

Das Gespräch führte Claudia Weber.

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