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Flüchtlingspakt unter Beschuss «De facto wird niemand in die Türkei zurückgeschickt»

Das Flüchtlingsabkommen von 2016 sollte die Krise in der Ägäis lösen. Die Idee: Die Türkei bewacht die Grenze strenger und nimmt abgewiesene Migranten aus Griechenland zurück, im Gegenzug bekommt sie finanzielle Hilfe von der EU. Nun droht der türkische Präsident Erdogan damit, die Grenze nach Europa für Flüchtlinge wieder zu öffnen, sollte die Türkei nicht mehr Geld bekommen. Griechenland reagierte scharf. Gerald Knaus, Architekt des Abkommens, versteht die Sichtweisen beider Länder.

Gerald Knaus

Migrationsexperte

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Der Österreicher Gerald Knaus ist Vorsitzender der Europäischen Stabilitätsinitiative , die sich als Denkfabrik mit dem Verhältnis Südosteuropas mit Westeuropa befasst. Der Migrationsexperte gilt als Architekt des Migrationsabkommens, das die EU mit der Türkei abgeschlossen hat.

SRF News: Warum ist die Türkei unzufrieden mit der Situation?

Gerald Knaus: In der Türkei leben laut UNHCR 3.5 Millionen Syrer, dazu kommen viele Afghanen und Iraker. Die Türkei fürchtet, dass noch einmal Hunderttausende vor Kämpfen in Nordsyrien flüchten könnten. Ankara fühlt sich von der EU ignoriert. Diese spricht zwar weiter über Migration, meint aber vor allem das zentrale Mittelmeer. Erdogan suggeriert nun, die EU halte sich nicht an ihre Versprechen.

Ist die Forderung nach mehr Geld berechtigt?

Die Europäer müssen erkennen, dass das syrische Flüchtlingsproblem nicht gelöst ist, nur weil weniger Menschen hierher kommen. Die Syrer sind die grösste Flüchtlingsgruppe der Welt. Die Türkei beheimatet die meisten Flüchtlinge weltweit.

Die Idee, dass sich Menschen nicht mehr in Boote setzen, weil es ohnehin sinnlos ist, funktioniert nicht.

Im Dialog zu bleiben, Flüchtlinge umzuverteilen und langfristig finanzielle Hilfe zuzusagen – all das ist nicht nur im Interesse der Türkei, sondern auch der EU.

Griechenland fühlt sich von den türkischen Drohungen provoziert. Die griechischen Inseln sind mit der Flüchtlingssituation heillos überfordert.

Die Griechen müssten schnell entscheiden können, wer von der Leuten, die aus der Türkei ins Land kommen, Schutz in der EU braucht und wer nicht. Das gelingt aber nicht. Die Türkei sagt zwar, dass sie jede Person zurücknimmt, die keinen Schutz in der EU braucht. Praktisch wird das aber nicht umgesetzt. De facto schicken die Griechen niemanden in die Türkei zurück. Die Idee, dass sich Menschen nicht mehr in Boote setzen, weil es ohnehin sinnlos ist, funktioniert nicht.

Überfüllte Flüchtlingslager in Griechenland

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Am Wochenende hatten nach vorläufigen Angaben der griechischen Polizei 468 Migranten aus der Türkei zu den griechischen Inseln Lesbos, Chios, Samos, Leros und Kos übergesetzt. Die Registrierlager auf diesen Inseln sind restlos überfüllt.

Um die weitgehend geschlossene Balkanroute zu umgehen, versuchen Schleuser, Migranten aus Griechenland oder der Türkei direkt nach Italien zu bringen. Von dort aus können sie nach Westeuropa reisen.

Wenn heute in ein Afghane oder Syrer nach Griechenland übersetzt, kann er damit rechnen, in Europa zu bleiben. Der Rest Europas hat aber das Gefühl, dass das nur Griechenland betrifft. Deswegen fühlt sich auch Griechenland allein gelassen. Im Land wächst die Angst vor der nächsten humanitären Katastrophe. Die neue griechische Regierung ist ratlos.

Griechenland kann es nicht alleine schaffen.

Griechenland richtet seine Wut gegen die Türkei. Warum aber fordert Athen nicht mehr Unterstützung von der EU?

Griechenland bekommt von der EU ständig zu hören, dass es schnellere Asylentscheide treffen soll. Im Vergleich zu den meisten europäischen Ländern ist das griechische Asylsystem aber nicht besonders langsam. Es wäre nötig, dass Entscheide innerhalb von Wochen gefällt werden. Das schaffen bislang aber nur die Niederlande. Die griechische Regierung hat die EU nun aufgefordert, sich auch wieder um die Ägäis zu kümmern.

Griechenland kann es nicht alleine schaffen. Es braucht eine Koalition der meistbetroffenen europäischen Staaten mit der griechischen Regierung. Diese muss der Türkei Angebote machen, wie man das Abkommen tatsächlich umsetzen kann. Griechenland und die Türkei brauchen Zusagen, dass man bereit ist, mehr zu helfen. Das wurde in den letzten Jahren durch die Freude über die sinkenden Flüchtlingszahlen vergessen. Das war keine kluge Politik.

Das Gespräch führte Marlen Oehler.

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