Früher hätte Kevadia Pankaj Khodabai nicht mal im Traum daran gedacht, mitten am Tag die Fabrik zu verlassen. «Ich habe sechs Tage die Woche von morgens bis abends gearbeitet, manchmal bis 23 Uhr», erzählt der 32-jährige Diamantschleifer.
Doch seit ein paar Monaten sei alles anders. Weil nun weniger Rohdiamanten da seien, arbeite er nur noch 15 Tage pro Monat. Die Hälfte seiner Kollegen sei schon entlassen worden.
Grosse Firmen können weiter russische Diamanten beschaffen
Die indische Diamantindustrie leidet unter den indirekten Folgen des Ukraine-Krieges. Wegen der westlichen Sanktionen gegen Russland kommen seit Monaten deutlich weniger Rohdiamanten ins Land.
Vor dem Krieg lieferte Russland über die Staatsfirma Alrosa rund die Hälfte der indischen Rohdiamanten. Jetzt haben sich die Lieferungen halbiert, schätzen Branchen-Insider. Vielen Diamantschleifern in Surat geht die Arbeit aus.
Solche Schwankungen seien in der Branche Routine, sagt Damjibhai Mavani, Sekretär des Diamantschleifer-Verbands. «Es gibt kein Problem.» Die grossen Firmen könnten sich immer irgendwoher Diamanten beschaffen, auch aus Russland, meint er und lächelt vielsagend.
Das Familienunternehmen Lukhi Empire aus Surat handelt mit Rohdiamanten. Die mittelgrosse Firma hat 35 Angestellte. Die Geschäfte liefen nicht gut, sagt Händler Umesh Lukhi. Die Preise schwankten stark, im Moment seien sie tief. Grosse, finanzstarke Diamanthändler könnten solche Schwankungen abpuffern, sagt Lukhi. Die Mehrzahl der kleinen und mittleren Unternehmen aber nicht.
Tausende Diamantschleifer entlassen
Die Diamantarbeiter-Gewerkschaft schätzt, dass in den letzten Monaten bis zu 10'000 Diamant-Schleifer allein in Surat entlassen worden sind. Im ganzen Bundesstaat Gujarat könnten es sogar bis zu 20'000 sein, sagt Vize-Präsident Bhavesh Tank. Vor allem die kleineren Firmen hätten Probleme.
Tank befürchtet, dass es wieder so schlimm werden könnte wie in der Rezession 2008 oder wie nach der Covid-Krise. Als Folge der Pandemie verloren Zehntausende Diamantschleifer ihre Arbeit. Eine soziale Absicherung hatten sie nicht.
Die Zahl der Selbstmorde steigt
Viele Arbeiter seien danach nie mehr in die Diamantbranche zurückgekehrt, sagt Tank. «Die Arbeiter sind ungebildet. Wer eine Weile als Schleifer gearbeitet hat, findet keine andere Arbeit mehr.»
Der Gewerkschafter hat von vielen Diamantschleifern gehört, die sich das Leben genommen haben – aus Verzweiflung. Auch jetzt steige die Zahl der Suizide wieder.
Auch Daya Bens Ehemann wusste keinen anderen Ausweg mehr. In der Coronakrise verlor er seinen Arbeitsplatz als Diamantschleifer, erzählt die junge Witwe, umringt von Verwandten und ihren drei kleinen Töchtern. Danach habe ihr Mann nur noch Gelegenheitsjobs als Schleifer gefunden – schlecht bezahlt, höchstens 12'000 Rupien im Monat, umgerechnet 135 Franken.
Weil das Geld nicht ausreichte, um seine Familie durchzubringen, nahm ihr Mann immer mehr Schulden auf. Als er auch die letzte Stelle verlor, schluckte er Gift. Die Familie fand ihn vor drei Wochen. Für Hilfe war es schon zu spät.