Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) spielte bei der Freilassung der israelischen Geiseln aus der Gewalt der Hamas eine Schlüsselrolle. Gewaltig ist auch die Herausforderung, die sich ihm jetzt stellt: der Bevölkerung in Gaza wieder ein einigermassen menschenwürdiges Leben zu ermöglichen.
SRF News: Wie haben Sie die Geiselbefreiung erlebt?
Mirjana Spoljaric: Es war ein hochemotionaler Moment, in erster Linie für die Familien. Ich stand mit vielen Familien direkt in Kontakt über die letzten beiden Jahre. Und ich habe mich unglaublich gefreut, als diese Operation abgeschlossen war. Es ist noch nicht das Ende, aber die erste wichtige Phase wurde erfolgreich durchgeführt.
Die Hamas hat frühere Geiselbefreiungen als Propagandaaktion missbraucht. Gab es auch diesmal solche Versuche?
Alle Seiten wussten, was wir brauchen und was wir einfordern. Die würdevolle Übergabe sowohl der Lebenden als auch der Verstorbenen gehört dazu. Ich bin froh, dass es diesmal anders verlaufen ist.
Die Verbesserungen im humanitären Bereich müssen noch greifen.
Bei der Rückführung der Leichen von Geiseln gibt es Verzögerungen. Sind Sie zuversichtlich, dass sie trotzdem zustande kommt?
Ich spreche nicht von Verzögerungen, weil wir von Anfang an wussten, dass die Rückführung der Verstorbenen weitaus schwieriger ist als die Rückführung der Lebenden. Wir arbeiten auch hier eng mit allen Parteien zusammen. Wir wissen, was es braucht. Die Parteien sind kooperativ. Wir sind zuversichtlich, dass wir diese Rückführung abschliessen können. Aber ich möchte mir keinen Zeitplan setzen. Entscheidend ist, dass das richtig gemacht wird. Wir müssen auch sicherstellen, dass auf allen Seiten die Leichen identifiziert werden. Das tun wir nicht selber, aber wir bieten die notwendige Unterstützung.
Gibt es bereits spürbare Verbesserungen bei den Möglichkeiten, humanitäre Hilfe zu leisten?
Die Verbesserungen im humanitären Bereich müssen noch greifen. Es geht da nicht nur um Decken, um Zelte, nicht nur um Nahrungsmittel, sondern es geht auch um Ersatzteile, um Treibstoff, Medikamente. Es geht um ganz viel Material, das wir einführen müssen, um die Wiederaufbauarbeit zu unterstützen. Es hängt immer noch davon ab, welche Güter hereingelassen werden und welche nicht. Die sogenannte Dual-Use-Problematik muss angegangen werden. Das ist jetzt auch Teil der Verhandlungen.
Gaza wird im nächsten Jahr eines der grössten, wenn nicht das grösste Programm des IKRK darstellen.
Wie sieht die humanitäre Situation in Gaza nach zwei Jahren Krieg aus?
Gaza ist zerstört. Das lässt sich nicht von heute auf morgen rückgängig machen. Es braucht noch viele Verhandlungsschritte und noch viele humanitäre Interventionen. Also noch sehr viel Arbeit, bis die Menschen wieder eine Lebensgrundlage in Gaza finden.
Bleibt Gaza also noch lange in hohem Ausmass auf humanitäre Hilfe angewiesen?
Ohne Zweifel.
Können andere Akteure, etwa die geplante kommissarische Regierung, allmählich Aufgaben vom IKRK übernehmen?
Wir bleiben so lange in Gaza, wie es nötig ist. Wir sind nicht auf Rückzug eingestellt. Gaza wird im nächsten Jahr eines der grössten, wenn nicht das grösste Programm des IKRK darstellen. Wir sind noch weit davon entfernt, darüber zu sprechen, wie wir Aufgaben an andere Organisationen abgeben. Zunächst müssen wir unsere Programme sogar ausweiten. Wir können etwa im medizinischen Bereich Hilfe leisten, die noch nicht von anderen Organisationen übernommen werden kann.
Das Gespräch führte Fredy Gsteiger.