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Geberkonferenz in London Ein Neuanfang für die Ukraine – auch mit russischem Geld?

Für die Schäden wegen des russischen Angriffs auf die Ukraine gibt es ein Preisschild: 411 Milliarden Dollar. Der Preis steigt weiter, je länger der Krieg dauert. In London fand nun ein Spitzentreffen zum Wiederaufbau der Ukraine statt – als Fortsetzung der Konferenz von Lugano vor einem Jahr.

2000 Kilometer Strassen wiederhergestellt

In London ging es um zweierlei: Staaten und internationale Organisationen, welche die Ukraine unterstützen, wollten zum einen ein Zeichen der Entschlossenheit und Hilfsbereitschaft aussenden. Zum andern wollten sie konkrete Fragen klären, wie der Wiederaufbau vonstattengehen soll.

Und das keinen Moment zu früh. Zumal der Wiederaufbau bereits begonnen hat. Die Ukraine hat nämlich bereits um die 2000 Kilometer Strassen, vierzig Brücken und hunderte von Bahnhöfen wiederhergestellt. Nachhaltig ist das freilich nicht, solange die russischen Angriffe andauern.

Klar ist allen: Bei klassischen Geberkonferenzen, wie sie zur Finanzierung von humanitärer Hilfe in Ländern wie Syrien, Jemen oder im Sudan durchgeführt werden, geht es meist um einstellige Milliardensummen. Da kommen niemals die benötigten 400 Dollarmilliarden und mehr für die Ukraine zusammen, wie sie die Weltbank berechnet hat. In der Pflicht sind also vorab die EU und ihre Mitgliedsländer. Die USA werden sich zurückhalten, nachdem sie bei der militärischen Unterstützung die Hauptlast tragen.

Nicht nur Backstein und Beton

Weil Wiederaufbauhilfen von Staaten und internationalen Institutionen wie der Weltbank bei weitem nicht reichen, wurden auf der Londoner Wiederaufbaukonferenz ganz besonders Privatunternehmen umworben. Sie sollen investieren und die Ukraine nicht nur wieder voll funktionsfähig machen, sondern gleich auch klimaneutral, moderner und widerstandsfähiger. Die Latte liegt hoch. Es geht nicht nur um Backstein und Beton.

Allerdings tätigen Firmen nur Milliardeninvestitionen, wenn sie in der Ukraine langfristige wirtschaftliche Perspektiven sehen. Was auch heisst: Das Land braucht Sicherheitsgarantien zum Schutz vor neuerlichen Attacken Moskaus. Damit ist man beim Beitritt zur EU und erst recht bei dem von der Regierung in Kiew dringend geforderten Nato-Beitritt. Beides wurde in London lediglich in Aussicht gestellt; fixe Zusagen und feste Zeitpläne gab es indes nicht. Die Ukraine muss dafür erst Vorleistungen erbringen, also umfassende Reformen durchsetzen, etwa bei der Korruptionsbekämpfung.

Financier Russland?

Doch selbst wenn sich die Privatwirtschaft kräftig am Wiederaufbau beteiligt, genügt auch das nicht. Man muss einen weiteren, höchst unwilligen Financier ins Boot holen: Russland. 350 Milliarden Dollar an russischen Vermögenswerten sind derzeit eingefroren in westlichen Ländern. Könnten sie verwendet werden für die Ukraine, wäre man punkto Wiederaufbau einen grossen Schritt weiter. Russland muss irgendwann für seinen Angriffskrieg Reparationen entrichten. Dafür gleich die bereits blockierten Vermögen zu verwenden, wäre gerecht. Doch ist es auch rechtmässig? Das ist unter Völkerrechtlern höchst umstritten.

Westliche Staaten, die sich stets auf ihre Rechtsstaatlichkeit berufen, können nicht handstreichartig russische Gelder umwidmen für die Ukraine. Es braucht einen gesetzes- und völkerrechtskonformen Weg. Den zu suchen, wurde nun in London beschlossen. Ob man ihn findet, ist offen. Und bis es so weit ist, dürften Jahre vergehen.

Fredy Gsteiger

Diplomatischer Korrespondent

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Fredy Gsteiger ist diplomatischer Korrespondent und stellvertretender Chefredaktor bei Radio SRF. Vor seiner Radiotätigkeit war er Auslandredaktor beim «St. Galler Tagblatt», Nahost-Redaktor und Paris-Korrespondent der «Zeit» sowie Chefredaktor der «Weltwoche».

Hier finden Sie weitere Artikel von Fredy Gsteiger und Informationen zu seiner Person.

Tagesgespräch, 22.06.2023, 13:30 Uhr

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