Kein Zweifel: Das sowjetische Volk hat ungeheuer gelitten im Zweiten Weltkrieg. Geschätzte 28 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner der Sowjetunion kamen ums Leben, Hitlers Soldaten standen zeitweise vor Moskau und erst nach blutigen vier Jahren rückte die Rote Armee in Berlin ein.
Der «Grosse Vaterländische Krieg», wie er in Russland genannt wird, hat mit einem Sieg der Sowjetunion geendet. Er hat aber auch Lücken in unzählige russische Familien gerissen und schwere Traumata hinterlassen.
Der Sieg wird zum identitätsstiftenden Ereignis
Doch heutzutage interessiert sich der Kreml nur noch für einen Aspekt dieses historischen Ereignisses: den Sieg. Das Wort «Sieg» prangt in diesen Tagen auf unzähligen Fahnen in der Hauptstadt Moskau. Am 9. Mai lässt der Kreml eine pompöse Militärparade auf dem Roten Platz veranstalten. Schon in den letzten Tagen hat es im ganzen Land Aufmärsche, Paraden und Veranstaltungen gegeben. Russland feiert seinen Sieg, als wäre er gestern gewesen.
Das war nicht immer so: Zu Sowjetzeiten wurde der 9. Mai viel bescheidener begangen. Erst Wladimir Putin hat den Jahrestag zum Fest der Superlative gemacht; unter ihm wurde der Sieg von 1945 zum identitätsstiftenden Ereignis, sozusagen zum Rütlischwur für die Russen. Doch wie so oft, wenn Politiker sich zu sehr für Geschichte interessieren, wird Geschichte missbraucht.
Verzerrte Geschichte – verfälschte Gegenwart
Erstens hat Putin ein reichlich verzerrtes Bild vom Zweiten Weltkrieg. Bezeichnend etwa: Nach Kreml-Lesart dauerte der Krieg von 1941 bis 1945. Gerne unterschlägt man in Moskau, dass Sowjetdiktator Stalin 1939 mit Hitler gemeinsame Sache machte und in der Folge Finnland, Polen, das Baltikum und Rumänien überfiel. Kommt dazu, dass bei Weitem nicht nur Russen in der Roten Armee gekämpft haben, sondern auch Millionen Ukrainer, Belarussen, Georgier und andere Völker des sowjetischen Vielvölkerstaats. Der Sieg war also nicht ein rein russischer.
Zweitens vermischt der Kreml den Sieg von 1945 mit seinem aktuellen Krieg gegen die Ukraine. Nicht zufällig behauptet die russische Propaganda, in Kiew sei ein «Neonazi-Regime» am Werk. Das ist eine bösartige Lüge. Die ukrainische Regierung ist ungleich demokratischer als die russische; die Ukraine ist ungleich freier als Russland.
Aber wie Putins Regime die Geschichte bis zur Unkenntlichkeit verzerrt, verzerrt es auch die Gegenwart. Die Folge: Aus Sicht des Kreml sind alle Nazis, die sich dem grossen Anführer Russlands nicht unterwerfen. Eben: zum Beispiel die Ukrainer. Entsprechend aufgeladen ist Putins Eroberungskrieg. Er selbst hat ihn bereits zu einem «heiligen Kampf gegen eine neue Form des Neonazismus» hochstilisiert.
Putins «russische Idee»
Für die Ukraine, die um ihre Existenz als unabhängiger Staat kämpft, bedeutet das nichts Gutes. Wer so überzeugt ist, dass er Krieg führt gegen «Nazis», der will die Sache bis zum Ende führen – auch dann, wenn diese «Nazis» nur in seinem Kopf existieren.
Putins Vorgänger Boris Jelzin hat einst mit einem Preisausschreiben eine «russische Idee» gesucht. Putin hat sie nun gefunden. Die Russen fühlten sich nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion gedemütigt. Der Putinismus hat nun aus ihnen wieder ein Siegervolk gemacht, das damals die Nazis bekämpfte und es nun wieder tun «muss». Der 9. Mai ist das zentrale Datum dieser Ideologie. Die Folgen davon sind blutig.