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Gefährdete Bürgerrechte Wie der amerikanische Supreme Court das Rad der Zeit zurückdreht

Die obersten US-Richter würden Grundrechte mit veralteten Moralvorstellungen bemessen, sagt eine Verfassungsrechtlerin – und könnten so etwa auch an der gleichgeschlechtlichen Ehe rütteln.

Bei Caroline Mala Corbin klingelt derzeit fast pausenlos das Telefon. Die Verfassungsrechtlerin der University of Miami ist gefragt – ihre Spezialisierung ist nämlich ziemlich einzigartig: «Ich lehre Verfassungsrecht und bin spezialisiert auf reproduktive Rechte, die Redefreiheit und religiöse Rechte.» Also auf so ziemlich alles, was mit dem Umsturz des nationalen Abtreibungsrechts durch das Oberste Gericht in den USA zu tun hat.

Die Auswirkungen dieses Urteils seien weitreichend, sagt Corbin. Das Oberste Gericht sei in den USA der letztinstanzliche Schiedsrichter darüber, wie die Verfassung zu deuten sei. Die Urteile des Gerichts sind deshalb nicht nur wegweisend für die Sache an sich, sondern auch für die Auslegung des Rechts insgesamt.

In Geschichte verwurzelte Grundrechte

Mindestens so interessant, wie das Urteil selbst, ist für Juristinnen und Juristen deshalb immer auch die Frage, wie das Gericht sein Urteil begründet. Das zeigt sich in den «Opinions of the Court», die die Urteile begleiten: Es sind oft mehrere Hundert Seiten lange Schreiben, in denen die einzelnen Richterinnen und Richter ihr Urteil begründen.

Supreme Court in Washington
Legende: Ende Juni hat das Oberste Gericht der USA das Recht auf Abtreibung auf nationaler Ebene gestrichen und die Entscheidung darüber den Bundesstaaten überlassen. Dieser Umsturz wirft viele Fragen auf. Was bedeutet das Urteil zum Beispiel für andere Bürgerrechte, wie die gleichgeschlechtliche Ehe? Keystone

Im Fall der Abtreibungen hat das Gericht argumentiert, dass nur ein Grundrecht sei, was explizit in der Verfassung steht, oder tief verwurzelt ist in der amerikanischen Geschichte. Das nationale Abtreibungsrecht sei das nicht, befand das Gericht. Corbin kann damit wenig anfangen: Die Mehrheit der Richterinnen und Richter habe in ihrer Begründung nur das herausgepickt, was gegen einen Zugang zu Abtreibungen spreche.

Moralvorstellungen aus dem 19. Jahrhundert

«Das ist Quatsch», sagt Corbin, «denn Bemühungen von Frauen, in den USA ungewollte Schwangerschaften oder Fehlgeburten zu verhindern, reichen mindestens so lange zurück, wie es das Land gibt». Die Argumentation des Gerichts lässt bei Frauenrechtlerinnen und Bürgerrechtlern die Alarmglocken klingeln. «Zu Recht», sagt Juristin Corbin. «Es steht ausser Frage, dass das für Rechte, die erst in jüngster Zeit anerkannt wurden, ein Risiko darstellt.»

Weshalb sollen unsere Grundrechte heute davon abhängig sein, was Männer im 19. Jahrhundert nach dem Bürgerkrieg entschieden haben?
Autor: Caroline Mala Corbin Verfassungsrechtlerin

Denn die gleichgeschlechtliche Ehe, die Ehe zwischen Schwarzen und Weissen, der Zugang zu Verhütungsmitteln – all diese Rechte stehen nicht in der Verfassung, sondern sie basieren auf Supreme-Court-Urteilen. Und der Supreme Court darf alte Fälle jederzeit wieder aus der Schublade holen und seine früheren Urteile umstossen.

Nach dem Abreibungsrecht die gleichgeschlechtliche Ehe?

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Protest gegen den Abtreibungsentscheid des Supreme Court.
Legende: Protest gegen den Abtreibungsentscheid des Supreme Court. Keystone

Corbin glaubt, dass die Richterinnen und Richter ihre Argumentation zum Abtreibungsrecht auch auf andere Gebiete anwenden können. «Das Gericht wird fragen: Ist der Zugang zu Verhütungsmitteln tief verankert in der Geschichte unseres Landes? Und es wird zweifelsohne zu dem Schluss kommen: Nein, ist er nicht. Und sicherlich wird das Gericht auch sagen, dass die gleichgeschlechtliche Ehe nicht tief verankert ist in unserer Geschichte.»

Das Oberste Gericht könne auch diese Rechte jederzeit zu einer Sache der einzelnen Gliedstaaten erklären – so, wie er das im Fall des nationalen Abtreibungsrechts bereits getan hat. Dann könnten einzelne Gliedstaaten auch die gleichgeschlechtliche Ehe auf ihrem Gebiet wieder verbieten. Möglich ist das aufgrund des 10. Zusatzartikels der amerikanischen Verfassung.

Dort heisst es: Die einzelnen Gliedstaaten haben alle Befugnisse, die der Regierung in Washington in der Verfassung nicht ausdrücklich übertragen werden.

Grundrechte an Moralvorstellungen des 19. Jahrhunderts zu messen, sei bizarr, sagt Corbin. «Weshalb sollen unsere Grundrechte heute davon abhängig sein, was Männer im 19. Jahrhundert nach dem Bürgerkrieg entschieden haben? Sie dachten, dass Frauen kein Wahlrecht haben sollen und dass verheiratete Frauen keinen Besitz haben dürfen. Warum entscheiden die darüber, welche Grundrechte wir heute haben?»

So lange sich an der konservativen Mehrheit im Supreme Court nichts ändert, werden Juristinnen und Juristen wie Corbin solche Fragen weiter beschäftigen.

Rendez-vous, 12.07.2022, 12:30 Uhr

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