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Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte setzt Prioritäten neu
Aus Echo der Zeit vom 23.03.2021. Bild: Keystone
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Gerichtshof für Menschenrechte EGMR mit neuer Strategie: Ein Gericht, das Einfluss nehmen will

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte EGMR ist chronisch überlastet – 65'000 Fälle sind in Strassburg hängig. Abhelfen soll nun eine neue Strategie: Künftig wird entschieden Priorität auf wichtige und dringende Fälle gelegt. Der EGMR will damit noch stärker «ein Gericht mit Wirkung» sein.

Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte sorgen derzeit dafür, dass die Schweiz gleich in drei Bereichen über die Bücher muss: Einmal im Fall der Wehrpflichtersatzabgabe, wo Strassburg die Schweizer Rechtspraxis nicht guthiess. Dann bei der Benachteiligung von Männern bei Witwer- beziehungsweise Witwenrenten. Und beim Bettelverbot. In manch anderem Land gäbe es noch weitaus mehr Beispiele zu nennen.

Das Problem: «Zu viel Fälle sind in Strassburg zu lange hängig», räumt der Vizekanzler des Gerichtshofs, Abel Campos, ein: «Oft lassen Urteile fünf, sechs, sieben Jahre auf sich warten.» Schon vor zehn Jahren beschloss deshalb der Ministerrat des Europarats in Interlaken eine erste Reform. Seither existiere ein Filtersystem, erklärte Gerichtspräsident Robert Spano dieser Tage im Strassburger Presseklub.

In dringlichen Fällen zügig entscheiden

Achtzig bis neunzig Prozent der Klagen werden nun abgewiesen. Hingegen werden Fälle, in denen es um das Recht auf Leben, um Misshandlungen oder um missbräuchliche Inhaftierungen geht, vordringlich behandelt. Deshalb entschied der EGMR neulich zügig, Russland müsse den Dissidenten Alexej Nawalny freilassen.

Betreffen viele Klagen aus einem Land immer wieder dasselbe Problem, formuliert der Gerichtshof ein Leiturteil, aus dem dann sogenannte «Klonurteile» abgeleitet werden. Auch das spart Aufwand.

Der Gerichtssaal des EMGR
Legende: Der Gerichtssaal des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg. Keystone

Diese Neuerungen aus Interlaken erlaubten es, die Zahl anstehender Fälle von 160'000 auf noch 65'000 zu reduzieren, sagt Campos. Doch das seien immer noch viel zu viele. Die neue Strategie geht deshalb einen grossen Schritt weiter. Es werde künftig noch entschiedener priorisiert – und zwar, so Abel Campos, «auf Fälle mit Wirkung», wie er sie nennt. Auf Fälle also, in denen der EGMR nicht primär Vergangenheit bewältigt, sondern unmittelbar die Gesetzgebung und Rechtsprechung der Mitgliedstaaten beeinflusst.

Priorität für Umwelt- und Klimaschutz

Welche Fälle sind gemeint? Zum Beispiel solche, in denen die Unabhängigkeit der Justiz infrage steht. Konkret: Um die immer häufigeren Versuche von Regierungen, die Gerichte zu gängeln. Gemeint, wenn auch nicht genannt, sind die Türkei, Ungarn oder Polen. Ebenfalls prioritär behandelt werden fortan Fälle, wo es um Umweltschutz und Klimawandel geht. Oder neue Fragestellungen im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie, wo gesundheitspolitisch bedingte Beschränkungen Freiheitsrechten entgegenstehen. «Hier erwarten», sagt Abel Campos, «Staaten und ebenso Bürgerinnen und Bürger rasche Entscheidungen aus Strassburg.»

Wir entscheiden so objektiv wie möglich. Dennoch wird es natürlich Kritik geben.
Autor: Abel Campos Vizekanzler EMGR

Fragt sich, ob der EGMR nicht Gefahr läuft, dass Kritiker ihm eine politisch motivierte Priorisierung vorwerfen. Abel Campos räumt ein: «Ja, das Risiko besteht. Aber die Kriterien sind klar und transparent. Wir entscheiden so objektiv wie möglich. Dennoch wird es natürlich Kritik geben.»

Gerichtspräsident Robert Spano wiederum betont, der Gerichtshof «muss gestärkt werden, um relevant zu bleiben». Oder wie es Vizekanzler Campos ausdrückt: «Wir sehen uns als Gericht, das Einfluss nimmt.» Darauf hätten die Bürgerinnen und Bürger der 47 Mitgliedsstaaten des Europarats einen Anspruch.

Echo der Zeit, 23.03.2021, 18.00 Uhr

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