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Gestrandet am Tor zur EU Flüchtlingsstreit: Lukaschenkos «Rache» und Warschaus Kalkül

Seit Tagen sitzen Flüchtlinge an der Grenze zur EU fest. Sie werden zu Schachfiguren in einem zynischen Spiel.

Ganz im Nordosten der EU, an der Grenze zwischen Polen und Belarus, sind zwei Dutzend Flüchtlinge aus Afghanistan gestrandet. Polen lässt sie nicht rein, nach Belarus zurück können sie auch nicht. Seit zwei Wochen schlafen und leben sie im Freien, ohne Zelte, ohne genügend Essen.

Das Niemandsland beginnt gleich hinter Usnarz Gorny. Hinter den paar Holzhäusern des winzigen Dorfs im Nordosten Polens, endet die Europäische Union, beginnt Belarus. Wo genau die Grenze verläuft, ist nicht immer klar. Und genau das ist den afghanischen Flüchtlingen zum Verhängnis geworden.

Polen sagt, sie befänden sich noch immer in Belarus und müssten auch dort bleiben. Weissrussische Soldaten verhindern, dass sich die Flüchtlinge von der Grenze wegbewegen.

Rächt sich Lukaschenko mit Flüchtlingen?

Mitverantwortlich für ihre missliche Lage ist wohl der weissrussische Diktator Alexander Lukaschenko. Polnische Medien berichten, er lasse Flüchtlinge per Direktflug aus Irak nach Minsk kommen. Von dort würden sie dann mit Bussen an die EU-Aussengrenze gekarrt. Zum Beispiel Richtung Polen. Lukaschenko wolle sich mit den Flüchtlingen für die jüngsten Sanktionen der EU rächen.

Tatsächlich haben die polnischen Behörden allein im Monat August mehr als 2000 versuchte illegale Grenzübertritte aus Belarus registriert. In weniger als einem Monat zehnmal so viele wie im ganzen Jahr 2020.

Polnische Grenzbeamte vor den Flüchtlingen
Legende: Warschau demonstriert Härte im Umgang mit den Flüchtlingen – das kommt zuhause gut an. Und auch aus Brüssel ist kein Widerspruch zu erwarten. Keystone

In den meisten Fällen verhinderten polnische Grenzschützer, dass die Flüchtlinge ins Land kommen konnten. Hunderte haben es aber auch geschafft, viele warten nun in polnischen Flüchtlingszentren auf die Behandlung ihres Asylantrags.

Polen spricht von «hybridem Krieg»

Lukaschenko wolle eine gesamteuropäische Migrationskrise auslösen, warnt Polens Ministerpräsident Mateusz Morawiecki. Auch wenn die Zahl der Flüchtlinge auf der neuen Route durch Belarus noch recht klein ist, spricht die Regierung in Warschau von einem «hybriden Krieg» und gibt sich dementsprechend hart.

900 polnische Soldaten sind an die Grenze zu Belarus verlegt worden. 190 Kilometer Stacheldrahtzaun will Polen in den nächsten Wochen der Grenze entlang ziehen. Die Regierung in Warschau soll auch völkerrechtswidrige Pushbacks autorisiert haben, die Rückführung von Flüchtlingen über die Grenze ohne ihnen die Möglichkeit zu geben, einen Asylantrag zu stellen.

Warschau schlägt Kapital aus Flüchtlingsfrage

Mag sein, dass Lukaschenko Zwietracht säen will. Und ja, in Polen wird heftig über den Umgang mit den  gestrandeten Flüchtlingen gestritten. Allerdings kommt das der Regierung in Warschau ganz gelegen. Mitten im grössten politischen Formtief seit Jahren bieten die Flüchtlinge den Nationalkonservativen nämlich die Gelegenheit, sich als stramme Hüter der polnischen Grenzen zu inszenieren – ein Rezept, das ihnen schon 2015 half, die Wahlen zu gewinnen.

Und Kritik aus anderen EU-Ländern müssen sie auch nicht befürchten. Zu froh sind viele EU-Länder um stramme Hüter an den EU-Aussengrenzen.

Echo der Zeit, 25.08.2021, 18:00 Uhr

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