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Globale Machtverschiebung Die «Entwestlichung» der Welt: Die einstige Dominanz bröckelt

Am Nato-Gipfel in Vilnius gaben die westlichen Staats- und Regierungschefs ein Bild der Stärke ab. Doch andere Ländergruppen vergrössern ihren Einfluss massiv.

Russlands Angriff auf die Ukraine hat viel ausgelöst. Auch für die Art und Weise, wie die internationalen Beziehungen funktionieren. «Die Invasion bewirkte einen Schulterschluss der westlichen Länder», sagt Christophe Ventura vom französischen Institut für internationale und strategische Beziehungen Iris.

Auch aus der Perspektive von Schwellen- und Entwicklungsländern sei Moskaus Attacke völkerrechtswidrig. «Dennoch weigern sich die meisten, sich den westlichen Sanktionen anzuschliessen.» Der Westen ist nicht mehr imstande, anderen Ländern seine Sichtweise zu vermitteln und seinen Willen aufzuzwingen: «Das Machtmonopol ist weg.»

«Unumkehrbare Machtverschiebung»

Didier Billion, Vizedirektor des Iris, spricht von einer «Entwestlichung der Welt. Dieser Begriff verbreitet sich derzeit rasch in der aussenpolitischen Debatte.» Gemeint ist: Nicht länger steuern westliche Länder, angeführt von der Supermacht USA, die Entwicklung der Welt. Es gibt Alternativen: andere aufstrebende oder jetzt schon äusserst mächtige Länder wie China.

Staats- und Regierungschefs der Nato-Mitgliedsländer in Vilnius
Legende: Als diese Woche die 31 Staats- und Regierungschefs der Nato-Mitgliedländer zum Gipfel in der litauischen Hauptstadt Vilnius zusammentrafen, wollten sie Stärke markieren. Denn das Ringen um Einflusssphären läuft auf Hochtouren. Keystone/AP/Andrew Caballero-Reynolds

Joan Deas, die Chefin der französischen Denkfabrik Iremmo, sieht «eine Machtverschiebung, die wohl unumkehrbar ist. Bereits bringen die fünf Brics-Länder China, Indien, Russland, Brasilien und Südafrika gemeinsam mehr kaufkraftbereinigtes Bruttoinlandprodukt auf die Waage als die traditionelle G7-Gruppe der westlichen Wirtschaftsmächte.» Dazu komme: «Viele Regierungen des Südens lehnen die Vormachtstellung des Westens entschieden ab.»

Dutzende unter ihren Staats- und Regierungschefs bekämpfen, so Deas, auch das Konzept des liberalen Rechtsstaats oder der Menschenrechte: «Und vor allem sind viele frustriert – wegen der früheren westlichen Kolonialherrschaft. Und sie fühlen sich bis heute an den Rand gedrängt und streben nach mehr Anerkennung.»

Antiwestliches Zusammenrücken

Einig sind sich viele Länder des Südens daher beim Ziel, den westlichen Einfluss zurückzudrängen. Darüber hinaus ist aber die Geschlossenheit begrenzt. «Es fehlen», so Christophe Ventura, «Ideen für eine neue Weltordnung des Südens.»

Westlicher Macht zu trotzen, bedeutet keineswegs, den westlichen Lebensstil abzulehnen.
Autor: Christophe Ventura Institut für internationale und strategische Beziehungen Iris.

Während China, die unbestrittene Führungsmacht des antiwestlichen Zusammenrückens, auf Autoritarismus setzt, sind Brasilien oder Indonesien Demokratien, obschon einzelne, nicht zuletzt Indien, zunehmend autoritäre Züge tragen. Und während China und Russland über militärische Macht und als Vetoländer in der UNO über enormen Einfluss auf der Weltbühne verfügen, gehören die meisten anderen eher zu den Akteuren am Rand.

Dazu kommt: «Westlicher Macht zu trotzen, bedeutet keineswegs, den westlichen Lebensstil abzulehnen», stellt Ventura fest. «Nicht nur die Eliten, auch die Mittelklasse – von China über Russland bis Nigeria – schätzt und pflegt einen westlichen Lebensstil genauso wie die Menschen in Paris oder London.»

Dennoch wird, gerade jetzt, da in Vilnius die mächtigste Militärallianz der Welt zu ihrem Gipfel zusammentrat, offenkundig: Der Rest der Welt fordert den Westen heraus. Der kann nicht länger geopolitisch den Ton angeben, wie er sich das sehr lange gewohnt war. Die Welthierarchie wird durchgeschüttelt, schnell und heftig.

Rendez-vous, 13.07.2023, 12:30 Uhr

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