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Grosser Arbeitskräftemangel Im Vereinigten Königreich ist das schwache Wachstum hausgemacht

Rund 1.2 Millionen Stellen können nicht besetzt werden, hauptsächlich im Bau-, Transport-, IT- und Gesundheitssektor. Das Wirtschaftswachstum wird stark gebremst.

«Wir könnten zweistellig wachsen, wenn ich morgen 100 IT-Spezialisten einstellen könnte», sagt Alison Ross. Sie ist in der Geschäftsleitung von Autotrader – der grössten Online-Plattform für Gebrauchtwagen im Vereinigten Königreich.

Das Unternehmen macht gegenwärtig rund 433 Millionen Pfund Umsatz, wächst jährlich um etwa 8 Prozent, hat an der Londoner Börse einen Marktwert von 5.5 Milliarden Pfund und beschäftigt 960 Angestellte. «Es läge noch viel mehr drin», meint Alison Ross, «doch leider finde ich nicht genügend erfahrende Software-Spezialisten.» Studienabgängerinnen und -abgänger gebe es viele. «Doch wir brauchen Leute mit drei, vier Jahren Erfahrung.»

Mehr Arbeitsvisa für ausländische Arbeitskräfte als Lösung?

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Der Druck der Wirtschaftsverbände auf die britische Regierung wächst. Sie wollen eine Lockerung der Einreisebestimmungen für ausländische Arbeitskräfte. Seit Anfang 2021 der Brexit vollzogen wurde, haben es Firmen schwerer, Arbeitskräfte aus den EU-Ländern anzustellen. Visa-Gesuche sind aufwendig und teuer geworden. Und zügig ein Visum bekommt nur, wer speziell gut qualifiziert ist – entweder mehr als 25‘000 Pfund im Jahr verdient oder in einem Sektor arbeitet, der einen überdurchschnittlich grossen Arbeitskräftemangel hat.

Die geforderten Lockerungen führen in der Regierung zu Spannungen: Das Wirtschaftsministerium möchte den Firmen entgegenkommen und Visa-Bestimmungen lockern. Das Innenministerium, das die Migrationspolitik verantwortet, steht auf der Bremse. Grossbritannien habe im vergangenen Jahr schon eine rekordhohe Zahl an Visa ausgestellt und Hunderttausende Menschen aus der Ukraine, Afghanistan und anderen Ländern aufgenommen. Mehr gehe nicht.

Und am Lohn liegt es nicht: Autotrader bietet einen durchschnittlichen Jahreslohn von 60'000 bis 80'000 Pfund – für eine erfahrene Software-Entwicklerin. Das ist fast das Doppelte, was im Landesdurchschnitt bezahlt wird.

Die Erwerbsquote sinkt

Während der Pandemie haben rund 300'000 Menschen im erwerbsfähigen Alter den Arbeitsmarkt verlassen und sind nicht wieder zur Arbeit zurückgekehrt. Das zeigt eine Auswertung des nationalen Büros für Statistiken.

Dafür gibt es zwei Hauptgründe. Einerseits sind die Frühpensionierungen während Corona stark gestiegen. Andererseits hat die Zahl der Menschen, die unter einer chronischen Krankheit leiden oder auf einen Eingriff warten, deutlich zugenommen.

Rund 370'000 Menschen warten seit mehr als einem Jahr auf eine Behandlung und sind krankgeschrieben. Die Wartezeiten im öffentlichen Gesundheitswesen NHS haben sich seit der Pandemie vervielfacht.

Und sie werden nicht kürzer, weil sich überdurchschnittlich viel Arztpersonal frühpensionieren lassen hat. Zudem haben viele Pflegekräfte dem Gesundheitswesen den Rücken gekehrt.

Eine Frau geht an einem geschlossenen Geschäft in Hanley, Stoke on Trent, Mittelengland, vorbei.
Legende: Die britische Wirtschaft konnte durch ein Nullwachstum im vierten Quartal des vergangenen Jahres knapp eine Rezession vermeiden. REUTERS/Phil Noble

Tiefer Beschäftigungsgrad bremst Wachstum

«Inaktivität ist eine der grössten Herausforderungen für unsere Wirtschaft», so das Büro für Budgetverantwortung, welches die Regierung in Finanzfragen berät. «Es bremst das Wachstum und treibt die Inflation hoch.»

Grossbritanniens Wirtschaft im Vergleich zu andern G7-Staaten

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Die britische Wirtschaft steht am Rande einer Rezession. Die englische Zentralbank rechnet erst Anfang 2024 mit neuem Wachstum. Der Internationale Währungsfonds veranschlagt ein Minus von 0.6 Prozent für das laufende Jahr. Damit steht das Vereinigte Königreich unter den G7-Staaten, allen grossen Volkswirtschaften, am schwächsten da – sogar schlechter als Russland, das unter Sanktionen wegen des Angriffskriegs auf die Ukraine zu leiden beginnt. Und von Wachstumszahlen von 5 Prozent, die der Währungsfonds Spitzenreiterin China fürs laufende Jahr prognostiziert, kann Grossbritannien nur träumen.

Denn auf einem ausgetrockneten Arbeitsmarkt steigen die Löhne überdurchschnittlich stark, was die Inflation antreibt und den Produktionsstandort unattraktiver macht. Die Regierungsberater empfehlen: Verringerung der Wartezeiten und Zahl der Langzeitkranken im Gesundheitswesen.

Junge Mütter und Frühpensionierte  zurückholen

Die Regierung kennt das Problem. Doch eine schnelle Lösung gibt es nicht. Im neuen Budget vom 15. März hat sie Anreize für zwei Gruppen eingebaut: Mütter sollen nach der Geburt die Arbeit früher wieder aufnehmen – und bekommen pro Woche 30 Stunden Kinderbetreuung finanziert. Allerdings erst ab 2025. 

Und für Menschen über 60 soll sich längeres Arbeiten lohnen – mit Steueranreizen beim Altersguthaben. Und Steuernachteilen, wer schon ab 60 in Rente gehen und sein Guthaben herauslösen will. So sollen Frühpensionierungen reduziert werden.

Das Potenzial an weissen jungen Männern ist ausgeschöpft.
Autor: Alison Ross Geschäftsführerin von Autotrader

Alles schön und gut, sagt Alison Ross vom Onlinehändler für Gebrauchtwagen Autotrader. Doch so sei das Rekrutierungsproblem des schnell wachsenden Tech-Sektors Grossbritanniens nicht zu lösen.

Man müsse bei der Bildung in der Volksschule ansetzen: «Wir müssen auch Mädchen und Kinder mit Migrationshintergrund für technische Themen begeistern. Das Potenzial an weissen jungen Männern ist ausgeschöpft.»

Tagesschau, 01.04.2023, 19:30 Uhr

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