Es ist brütend heiss in Madrid, die Luft ist schwer und die Stimmung aufgeladen. Auf der Plaza de Colón wogt ein rot-gelbes Meer aus Spanien-Fahnen, Spanien-Sonnenschirmen, Spanien-Gesichtsmasken. «Viva España»-Rufe erschallen und immer wieder: «Es lebe der König!»
Ob es denn in Gefahr sei, das Land, die spanische Monarchie? Und ob, genau deshalb sei sie hier, sagt eine Seniorin: «Ein unabhängiges Katalonien wäre doch nur der Anfang. Was käme als nächstes? Das Baskenland? Valencia?» Das Land müsse geeint bleiben, «auch wenn sich ein paar Dummköpfe für etwas Besonderes halten».
Eine Frau um die 50 wischt sich den Schweiss von der Stirn: Eine Bedrohung für Spanien seien die Begnadigungen zwar nicht – aber eine Beleidigung. Premier Pedro Sánchez und seine Regierung hätten keine Prinzipien, es sei eine Schande. Eine andere stimmt ihr zu: Sánchez gehe es einzig darum, an der Macht zu bleiben. Selbst wenn das bedeute, das Land zu schwächen.
Sánchez: «Bestrafung und Eintracht»
Sánchez sieht dies natürlich anders. Vor rund drei Wochen äusserte er sich im Kongress – begleitet von Buhrufen der rechten Parteien: Die spanische Verfassung sehe beides vor, Bestrafung und Eintracht. Jetzt sei die Zeit der Eintracht, der Versöhnung gekommen.
Ob sein Ziel wirklich so nobel ist, ist schwer zu beurteilen. Denn seine Mehrheit im Kongress steht auf derart wackeligen Beinen, dass er auf die Unterstützung der katalanischen Unabhängigkeitsparteien angewiesen ist.
«Dialog» statt Härte
Doch was auch immer seine Motivation ist, er fährt im Katalonien-Konflikt einen völlig anderen Kurs als die Regierung seines konservativen Vorgängers Mariano Rajoy. Rajoy stand für Konfrontation und eine harte Hand.
Sánchez dagegen streckt die Hand aus und sucht nach politischen Lösungen. «Die Katalonien-Frage lässt sich nur mit Dialog lösen»: Sánchez wieder holt diesen Satz wie ein Mantra. Und auch in Katalonien hört man ihn mit neuer Deutlichkeit. Seit Ende Mai ist dort die Partei der Linken Republikaner (ERC) an der Macht. Oriol Junqueras ist deren Anführer, verurteilt zu 13 Jahren Gefängnis.
Letzte Woche veröffentlichte Junqueras einen Artikel auf der Webseite des TV-Senders La Sexta, mit dem Titel «Blick in die Zukunft» , in dem das Wort «Dialog» fünfmal vorkam – er sei unabdingbar. Zwar ist die Unabhängigkeit für ihn und seine Partei weiterhin oberstes Ziel. Er fordert nach wie vor ein Referendum. Aber ein unbewilligtes wie 2017 oder eine einseitige Unabhängigkeitserklärung seien der falsche Weg.
Hoffnung für die Anhänger der Unabhängigkeitsbewegung?
Könnte es also sein, dass Junqueras und seine Mitstreiter bald freikommen? Die Regierung könne tatsächlich Begnadigungen aussprechen, allerdings nur Teilbegnadigungungen, erklärt Jacobo Dopico, Strafrechtsprofessor an der Universidad Carlos III in Madrid.
Für eine vollständige Begnadigung braucht die Regierung laut Dopico die Zustimmung jenes Gerichts, das die Urteile gefällt hat. In diesem Fall ist dies das Oberste Gericht Spaniens. Dieses sprach sich jedoch vor drei Wochen in einem Gutachten gegen die Begnadigungen aus.
Für die katalanischen Gefangenen ist dies aber womöglich juristische Haarspalterei. Da sie bereits mehrere Jahre ihrer Strafen abgesessen haben, würde auch eine Teilbegnadigung reichen, um sie mit sofortiger Wirkung aus dem Gefängnis zu entlassen. Sollte dies in den nächsten Tagen, Wochen oder Monaten geschehen, dürften bald noch viel mehr Menschen auf die Strasse gehen als gestern in Madrid.