Die Bilder gingen um die Welt. Air-France-Manager mit zerrissenen Hemden retten sich über den Maschendraht-Zaun vor der Meute aufgebrachter Arbeitnehmer. Drei Tage später werden fünf Angestellte, die vermeintlich Handgreiflichen, in Handschellen von der Polizei abgeführt und von Air France fristlos entlassen.
Diese Bilder haben sich in vielen Köpfen eingeprägt. Und in denselben Köpfen hat sich das Vorurteil bestätigt, dass Sozialpartnerschaft in Frankreich gleichzusetzen ist mit einem Dialog unter Tauben, die immer mal wieder in blinde Wut und Gewalt ausbricht.
Auf der einen Seite am Verhandlungstisch sitzen die Chefs, die ihre Businesspläne diktieren; vis-à-vis sitzen die Vertreter der Arbeitnehmer, welche die Kröte zu schlucken haben.
Gegenleistung Job-Garantie
In dieses Schema passt auch der Dialog im Werk des Automobil-Produzenten Smart in Nordfrankreich. Da hatten die Arbeitnehmer darüber abzustimmen, ob sie künftig vier Stunden pro Woche mehr arbeiten wollen – bei gleichem Lohn, natürlich. Als Gegenleistung gibt es eine Job-Garantie für fünf Jahre.
Beide Beispiele prägen ein Bild, das nicht falsch ist, aber eben auch nicht vollständig. Eine klare Mehrheit der Arbeitnehmer stimmte bei Smart nämlich für eine Arbeitszeiterhöhung ohne vollständigen Lohnausgleich.
Kein Einzelfall. 2014 haben Arbeitgebern und Arbeitnehmer nicht weniger 36’500 Verträge ausgehandelt, in denen sie sich auf Arbeitsbedingungen, Arbeitszeit und Löhne einigen konnten. Das sind 36’500 Kompromisse, die am Verhandlungstisch gefunden wurden. Auch die Zahl der Streiks ist in Frankreich seit einigen Jahren wieder stark rückläufig.
Es gibt also zwei Sichten auf das halb volle Glas. Das sind Zeichen dafür, dass es fern ab laufender Fernsehkameras und viel Scheinwerferlicht durchaus einen funktionierenden Dialog gäbe, wenn man ihn sehen wollte.
Bonus-Malus-System
Die linke Regierung von Präsident Hollande lässt keine Gelegenheit aus, dies zu betonen. Es war eines der grossen Wahlversprechen von François Hollande: Weniger Staat, der schlichten muss, mehr Verständigung unter den Sozialpartnern. Dahinter steht politischer Kalkül, denn Hollande der Präsident weiss, dass Wirtschafts-Reformen, so klein sie auch sind, nur gelingen können, wenn Arbeitgeber und Gewerkschaften mitziehen.
Vor einer Woche einigten sich die Sozialpartner auf eine kleine Rentenreform. Monatelang wurde verhandelt. Einigen konnten sich die Parteien auf ein Bonus-Malus-System. Das Rentenalter 62 gilt weiterhin. Wer länger arbeitet bis 65 Jahre, bekommt einen Bonus auf seiner Zusatzrente. Wer trotzdem im Alter von 62 Jahren abtreten will, muss eine Kürzung der Zusatzleistungen um 10 Prozent hinnehmen.
Anfang eines kleinen Kulturwandels?
Das ist kein grosser Wurf, sondern eher eine kleine Struktur-Reform. Aber es ist ein Fortschritt, der es ermöglicht, das Rentensystem finanziell tragfähiger zu machen in den kommenden Jahren. Es ist eine Politik der kleinen, zaghaften Schritte der Sozialpartner.
Im besten Fall ist es auch ein kleiner Baustein, der das Vertrauen auf beiden Seiten wieder aufbauen hilft und zeigt, dass Kompromisse möglich sind. Die Rentenreform hat keine radikal neue Kultur unter den Sozialpartner etabliert.
Aber es könnte der Anfang eines kleinen Kulturwandels sein, der gross ist, weil er darin besteht, viele kleine, zaghafte Schritte zu machen und das als gangbaren Weg zu betrachten.
Es ist allerdings ein Weg, der schlecht zum weit verbreiteten Hyper-Aktivismus zahlreicher Politiker in Frankreich passt, die immer nur alles plattwalzen wollen und alles völlig neu aufbauen wollen, ohne es je zu tun und dafür jeweils den anderen die Schuld geben.
Es ist allerdings ein Weg, auf dem die Sozialpartner in der Schweiz und in Deutschland schon lange Jahre marschieren. Nicht ohne Zwischentöne. Aber nicht ohne Erfolg.
SRF 4 News, 18.10.2015, 16 Uhr