Herr Brakel, der Putsch gegen Erdogan ist gescheitert. Nun setzt Erdogan zu «Säuberungsmassnahmen» an. Sind diese tatsächlich eine direkte Folge des missglückten Putsches?
Diese «Säuberungen» im Staatsapparat gab es schon vorher. Das ist nichts Neues – neu sind Ausmass und Tempo. Gerade liegt ein Gesetzentwurf im Parlament, der einen ganz starken Eingriff in die Judikative vorsieht. Damit sollen mehrere Richter aus dem Verfassungsgericht entlassen werden. Das waren Schritte, die es schon vor dem Putsch gegeben hat. Mit dem Putsch lässt sich das aber natürlich viel schneller umsetzen.
Was bedeutet der Putsch für die Beziehungen zwischen der EU und der Türkei?
Im militärischen Bereich hat es eine Zusammenarbeit mit der Türkei gegeben. Das ist nun problematisch, weil Erdogan die Armee «säubert» . Dies passiert zu einem ungünstigen Zeitpunkt, weil die türkische Armee eine wichtige Rolle im Kampf gegen die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) einnimmt. Zudem gerät die EU unter moralischen Druck, wenn in der Türkei zunehmend demokratische Rechte abgebaut werden.
Wie verhält es sich mit der Einführung der Todesstrafe? Wäre das das Ende der engen Beziehungen zwischen Brüssel und Ankara?
Falls die Todesstrafe kommen sollte, wäre die EU verpflichtet, die Beitrittsverhandlungen auszusetzen. Auch die Mitgliedschaft der Türkei im Europarat wäre beendet. Das ist gefährlich für die türkische Zivilgesellschaft und ein Rückschlag für diejenigen, die in der Türkei für Menschenrechte kämpfen. Denn mit dieser Mitgliedschaft geht die Unterwerfung unter den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte einher.
Wie kann denn die EU Druck auf die Türkei ausüben?
Die Möglichkeiten der EU sind begrenzt. Vor allem dort, wo direkt die Interessen Erdogans betroffen sind, wie bei der Einführung eines Präsidialsystems. Ich vermute, es gibt bislang keine Idee, wie man mit der Türkei künftig umgehen will. Es wird davon abhängen, welche Massnahmen die Türkei in den nächsten Tagen ergreifen wird, etwa gegen europäische Einrichtungen in der Türkei.
Umgekehrt gefragt: Wie abhängig ist die Türkei von der EU?
Die Türkei kann sich nicht völlig von der EU abwenden. Sie braucht sie aus wirtschaftlicher Sicht und sie braucht auch diesen Flüchtlingsdeal, so schlecht dieser auch funktioniert. Die Türkei ist auf das Geld aus diesem Flüchtlingsdeal angewiesen.
Muss Erdogan also doch Zugeständnisse Richtung Brüssel machen?
Erdogan hat aus wirtschaftlicher Sicht ein Interesse daran, gute Beziehungen zur EU zu pflegen. Es gibt zwei Ebenen zu beachten: Die eine ist die, was in der Türkei in der Öffentlichkeit gesagt wird – zum Teil populistische Parolen. Und dann gibt es die Realpolitik, die hinter den Kulissen stattfindet. Erdogan ist ein hart kalkulierender Politiker. Das Bild des emotionalen Erdogan in der Öffentlichkeit täuscht häufig darüber hinweg.
Hat der Streit zwischen Brüssel und Ankara mittel- oder langfristig Auswirkungen auf die wirtschaftliche Lage in der Türkei?
Die Türkei ist sehr stark von ausländischem Kapital abhängig und damit von den Schwankungen an den Währungsmärkten. Die Türkei muss den ausländischen Investoren klar machen, dass ihre Investitionen sicher sind. Aber der Tourismus ist ein grosses Problem und einer der Gründe, warum man sich wieder mit den Russen versöhnt hat. Die Touristen meiden das Land aber nicht wegen der nicht-demokratischen Zustände, sondern aus Angst vor Anschlägen.
In der EU, gerade in Deutschland, leben viele Türken. Ein beträchtlicher Teil davon ist stark konservativ geprägt. Welche Rolle spielen diese Menschen?
Für die Lage in der EU kann es Konfliktpotenzial bergen, wenn diese aufgefordert werden die Regierungspartei von Erdogan in Deutschland zu vertreten. Wir haben das zuletzt bei der Armenien-Resolution des Deutschen Bundestages gesehen. Erdogan bietet den Türken, die sich in Deutschland nicht integriert fühlen, ein emotionales Zuhause. Das findet eine Form der Abgrenzung und Entfremdung statt.
Viele türkische innenpolitische Probleme spielen sich auch auf den Strassen Deutschlands ab, wie beispielsweise der Kurden-Konflikt. Das kann sich durchaus noch ausweiten.
Das Gespräch führte Oliver Roscher