Tumulte im Stadion Vélodrome
Solche Töne ist man sich aus Moskau nicht gewohnt. Russische Fussball-Fans sollen sich «an die Gesetze des Landes zu halten, in dem sie sich aufhalten», sagte Kreml-Sprecher Dmitri Peskow. Für russische Verhältnisse ist das schon fast ein Schuldeingeständnis. Normalerweise reagiert der Kreml mit einer Trotzhaltung, wenn Vorwürfe aus dem Ausland kommen.
Nach den gewalttätigen Ausschreitungen von Marseille geht das nicht mehr. Videos im Internet dokumentieren, wie russische Fans auf wehrlose Menschen einprügeln. Auch Nationalspieler Artjom Dzjuba meldete sich zu Wort: «Das ist eine Fussball-EM, nicht eine Prügel-EM.»
Dass das offizielle Russland jetzt reagiert, ist kein Wunder. Das Land hat einen enormen Image-Schaden erlitten. In den letzten Jahren hat der Kreml riesige Summen in Sportanlässe investiert. 2018 wird die Fussball-WM in Russland stattfinden. Prügelnde Fans passen da nicht ins Bild.
Fan-Chef hat zweifelhafte Vergangenheit
Allerdings: Ganz glaubwürdig sind die Ordnungsrufe aus Moskau nicht. Die russische Hooligan-Szene ist von der Staatsmacht sehr lange umworben worden. Eine zentrale Rolle spielt dabei Alexander Schprygin. Er ist Chef des Dachverbands russischer Fans. Ein Mann mit zweifelhafter Vergangenheit. Er war lange in der ultra-nationalistischen Fanszene aktiv. Die Moskauer Oppositionszeitung «Nowaya Gazeta» hat Fotos gefunden, auf denen Schprygin mit dem Hitler-Gruss posiert – oder mit einer Schnellfeuerwaffe der deutschen Wehrmacht.
Inzwischen trägt Schprygin auch mal Schlips und Krawatte. Offiziell arbeitet er als Assistent des rechtsnationalen Parlamentsabgeordneten Igor Lebedew. Lebedew ist es auch gewesen, der die Fan-Gewalt auf seinem Twitter-Account gerechtfertigt hat. «Ich sehe nichts Schlimmes in dieser Prügelei. Im Gegenteil: Unsere Jungs haben das gut gemacht. Weiter so!»
Fan-Chef Schprygin ist derweil ein gefragter Mann. Am staatlichen Fernsehen darf er ausführlich darüber berichten, wie die französische Polizei gegen russische Hooligans vorgeht. Die Tonalität ist ziemlich selbstgerecht: die Fans werden als Opfer aggressiver Sicherheitskräfte dargestellt.
In Russland werden die Hooligans von der Staatsmacht pfleglicher behandelt. Es gibt ein Foto, auf dem Alexander Schprygin mit Präsident Wladimir Putin posiert.
Eine «Prügel-Truppe» des Kreml?
Der bekannte liberale Oppositionspolitiker Ilja Jaschin geht noch weiter. «Die Fan-Organisationen arbeiten in Russland schon lange eng mit den Behörden zusammen», schreibt Jaschin in einem Artikel. Hooligans würden auch gelegentlich herangezogen, um «bestimmte Aufgaben» zu lösen. Konkret: gewalttätige Überfälle auf unliebsame Kritiker. Jaschin: «Es ist nicht auszuschliessen, dass die britischen Fans in Frankreich von denselben Leuten angegriffen wurden, die früher gewaltsam gegen russische Oppositionelle vorgegangen sind.»
Sind die Hooligans eine Art Prügeltruppe des Kreml? Jaschins These ist kühn – und nicht zu beweisen. Fest aber steht: mit ihrem übertriebenen Nationalismus passen die radikalen Fussballfans in Russlands Zeitgeist. Seit der Krim-Annexion arbeitet der Kreml am Bild eines wehrhaften Russland, das notfalls auch Gewalt einsetzt, um seine Interessen durchzusetzen. Nationalismus ist zu einer Quasi-Staatsideologie geworden.
Es wirkt, als hätten die Hooligans diese Ideen zu wörtlich genommen – mit blutigen Folgen im Fussball-Stadion.