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International Höchster EU-Richter: Die Union bricht nicht auseinander

Gefährdet die aktuelle Krise die EU? Nein, sagt Koen Lenaerts, der höchste Richter am EU-Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg. Gerade der EuGH sei da, um die Union voranzubringen. Das Gericht habe mit seiner Rechtsprechung schon in der Vergangenheit wesentlich zum Fortbestand der EU beigetragen.

Der neue Präsident des EU-Gerichtshofs (EuGH) Koen Lenaerts sagt, er habe keine Angst vor einem Auseinanderbrechen der Europäischen Union. Im SRF-Interview widerspricht Lenaerts dem düsteren Bild, das Spitzenvertreter der EU wie Kommissionschef Jean-Claude Juncker in den vergangenen Wochen immer wieder gezeichnet haben. Gerade der EuGH sei da, um die Union voranzubringen: «Immer wenn die politische Lage sehr, sehr schwierig war, ist es der Gerichtshof gewesen, der die Flamme wieder entzündet hat», sagt Lenaerts.

In den 1970er Jahren habe jeder von der «Eurosklerose» gesprochen, auch damals habe sich die EU in einer scheinbar ausweglosen Krise befunden. Der EuGH habe mit seiner Rechtsprechung wesentlich zum Fortbestand der EU beigetragen. Diese Rolle sieht er für seinen Gerichtshof auch heute – obwohl oder gerade weil manche EU-Staaten die Regeln des Dublin-Systems und des EU-Asylrechts derzeit kaum noch anzuwenden scheinen.

Lenaerts Ziel: Die Urteile bestmöglich zu erklären

«Die Möglichkeiten, die Mitgliedstaaten zu zwingen, ihre Verpflichtungen nach dem Unionsrecht einzuhalten, wurden gestärkt.» Die hohen Bussgelder, die der EuGH gegen Mitgliedsstaaten verhängen kann, hätten in vielen Fällen dazu geführt, dass Staaten ihren Verpflichtungen schliesslich doch noch nachgekommen sind.

Sein Ziel als neuer oberster Richter der EU sei es vor allem, die Urteile des EuGH bestmöglich zu erklären und für Verständnis zu werben – insbesondere gegenüber jenen, die sich ein anderes Urteil gewünscht hätten. Als Richter sei es eine seiner zentralen Aufgabe, Minderheiten zu schützen. Er stehe als Richter aber nicht über dem Willen des Volkes, sagt Lenaerts mit Blick auf die Debatten in der Schweiz und in anderen Ländern.

Absage an EuGH-Modell des Bundesrates

Am Dienstag hatte sich Lenaerts in «10 vor 10» bereits zum sogenannten EuGH-Modell des Bundesrats geäussert. Nach diesem Modell sollen in Zukunft Rechtstreitigkeiten zwischen der Schweiz und der EU beigelegt werden. Der EuGH würde ein Gutachten erstellen und den abschliessenden Entscheid den Politikern der Schweiz und der EU überlassen.

«Die zentrale Rolle dieses Gerichtshofes ist es, Entscheidungen zu treffen, die verbindlich sind», sagte Lenaerts zu SRF-Korrespondent Sebastian Ramspeck. Es sei undenkbar, dass der EuGH Gutachten erstelle, die nur eine unverbindliche Entscheidungsgrundlage für Vertreter der EU bildeten: «Das ist verfassungsrechtlich – das heisst: EU-verfassungsrechtlich – nicht möglich. Weil die Verträge, auf die die Union gestützt ist, das nicht vorsehen.»

Der EuGH verfasse zwar in bestimmten Fällen durchaus Gutachten, sagt Lenaerts. Aber auch die seien absolut verbindlich, EU-Vertreter hätten also nicht das Recht, etwas zu entscheiden, was diesen Gutachten widerspreche.

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