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Eine Gruppe afrikanische Männer sitzen in einer Gruppe zusasmmen.
Legende: Zehntausende Migranten aus Afrika warten in Libyen auf eine Gelegenheit für die Reise nach Europa. Keystone

International Libyen: «Europa muss dringend handeln»

Libyen versinkt in Chaos und Bürgerkrieg. Dies kommt Schleppern zugute, die afrikanische Migranten übers Mittelmeer in Richtung Europa verschiffen. Schon bald könnten sogar Libyer selber aufbrechen, denn viele sehen keine Zukunft mehr in ihrem Land. Europa ist dringend gefordert.

Seit dem Sturz von Muammar al-Gaddafi im Oktober 2011 versinkt Libyen in Chaos, Anarchie und Bürgerkrieg. Inzwischen ist das Land zum Tummelfeld zahlreicher islamistischer Extremisten und Terroristen geworden, unter anderem mischt auch der sogenannte Islamische Staat IS mit einem Ableger mit.

Neben Extremisten und Stammesmilizen kämpfen im Bürgerkrieg vor allem zwei rivalisierende politische Lager um die Macht: Das international anerkannte Parlament mit Regierung in Tobruk und das islamistische Gegenparlament – ebenfalls mit einer Regierung – in Tripolis.

Gleichzeitig nützen Schlepper die desolate Lage aus, um tausende afrikanische Migranten übers Mittelmeer nach Europa zu schicken. Im Gespräch mit SRF News schildert Libyen-Kenner Beat Stauffer die Problematik und deren möglicherweise dramatischen Folgen für Europa.

SRF News: Haben die Konfliktparteien in Libyen überhaupt ein Interesse an einer Einigung?

Beat Stauffer

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Portrait von Beat Stauffer
Legende: Friedel Ammann

Beat Stauffer berichtet als freischaffender Journalist für verschiedene Medien aus Nordafrika. Er ist auch als Buchautor, Kursleiter und Referent tätig.

Beat Stauffer: Die pragmatischen Kreise in beiden Lagern – in Tobruk und in Tripolis – haben durchaus ein Interesse an einer politischen Lösung. Einerseits sind das die Unternehmer, deren Geschäfte durch die andauernde Anarchie immer mehr in Gefahr geraten. Daneben gibt es durchaus Politiker, die sehen, dass das ganze Land in Gefahr ist. Allerdings gibt es in beiden Lagern auch radikale Kräfte, die einzig auf den Sieg ihrer Seite hinarbeiten und zu keinen Kompromissen bereit sind.

Daneben gibt es wohl auch Kreise, die vom derzeitigen Chaos profitieren. Welche sind das?

Es sind vor allem vier Gruppen: Zum einen der IS und andere dschihadistische Gruppen. Angesichts der chaotischen Lage im Land können sie sich ausbreiten, keine staatliche Macht oder Kontrolle kann sie aufhalten. Daneben gibt es Warlords, die ihre eigenen Geschäfte betreiben und möchten, dass das so bleibt. Eng mit ihnen verbunden sind Schlepperbanden, die ihre sehr rentablen Geschäfte mit den Migranten weiter ungestört betreiben wollen. Ausserdem arbeiten Gaddafi-Treue im Ausland auf eine Rückkehr von führenden Leuten aus dessen früherem Umfeld hin. Sie hoffen auf ein noch grösseres Chaos und darauf, dass sich die Libyer dann auf eine Rückkehr zu den guten alten Zeiten des Gaddafi-Regimes zurücksehnen.

Die internationale Gemeinschaft und allen voran die EU haben ein starkes Interesse an einer Stabilisierung der Lage in Libyen. Wie können sie erreichen, dass sich die Konfliktparteien einigen?

Die internationale Gemeinschaft müsste auf beide Konfliktparteien deutlich mehr Druck ausüben. Sie könnte libysche Guthaben im Ausland einfrieren, Ölimporte aus Libyen stoppen und die Handelsbeziehungen mit dem Land blockieren. Doch die internationale Gemeinschaft fokussiert derzeit sehr stark auf den Syrien-Konflikt und die EU ist von der Flüchtlingskrise absorbiert. Wohl deshalb ist Libyen etwas in den Hintergrund gerückt.

Es bräuchte eine Art Migrationspartnerschaft zwischen Europa und Libyen.

Zurück zu den libyschen Schleppern: Könnte die Migration übers Mittelmeer tatsächlich gebremst werden, wenn Libyen einen funktionierenden Zentralstaat hätte?

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Es bestünde zumindest eine Chance dafür. Natürlich könnte man nicht wie zu Zeiten Gaddafis einfach ein paar hundert Millionen Dollar nach Libyen überweisen und dann wegschauen, was Gaddafi mit den Flüchtlingen macht. Die vielen Flüchtlinge und Migranten in Libyen müssten in geordneten Verhältnissen untergebracht werden und eine Chance erhalten, Asylgesuche stellen zu können. Das Ziel müsste eine Art Migrationspartnerschaft zwischen Europa und Libyen sein. Falls das gelingen würde, könnte man den Flüchtlingsstrom via die zentrale Mittelmeer-Route wohl stark reduzieren.

Zurzeit ist in Libyen allerdings wie geschildert keine Lösung in Sicht. Welche Auswirkungen könnte die chaotische Lage in Libyen längerfristig für die Region haben?

Die Nachbarländer Tunesien, Algerien und Ägypten sind in höchstem Mass beunruhigt. Tunesien fühlt sich enorm von den Dschihadisten in Libyen bedroht, das demokratische Experiment im Land könnte scheitern. Beobachter in Tunesien befürchten sogar, dass die Libyer angesichts der desolaten und aussichtslosen Lage in Libyen mittlerweile derart frustriert sind, dass viele von ihnen eine Emigration nach Europa in Erwägung ziehen. Bis jetzt sind die Migranten, die übers Mittelmeer kommen, vor allem Afrikaner. In Zukunft könnten es aber auch Libyer selber sein. Dann wären Italien und an zweiter Stelle die Schweiz von solchen Flüchtlingswellen ganz direkt betroffen.

Die EU und die Schweiz müssten also ein vitales Interesse an einer Lösung im Libyen-Konflikt haben?

Auf jeden Fall. Der Konflikt in Libyen ist für Europa von immenser Bedeutung. Das Gefahrenpotenzial ist riesig, wenn man sich ansieht, wie nahe Libyen von Südeuropa liegt. Europa müsste eigentlich dringend handeln.

Das Gespräch führte Lukas Mäder.

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