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Vier vermummte, schwer bewaffnete Kämpfer posieren in ländlichem Gebiet.
Legende: Kämpfer der Nusra-Front bei Aleppo: Viele Syrer fürchten eine Machtübernahme der Islamisten mehr als das Assad-Regime. Imago Archiv

International «Lieber die Pest Assad als die Cholera radikale Islamisten»

Die Kämpfe in Syrien intensivieren sich, die Hoffnungen auf einen Waffenstillstand schwinden. Grund dafür sei, dass Assad und die Russen die Eroberung Aleppos in Reichweite sähen, sagt Nahost-Experte Michael Lüders. «Das Regime hofft auf einen Sieg.»

Ende Woche sollte in Syrien eigentlich eine Waffenruhe beginnen, so haben es zahlreiche Staaten letzte Woche in München vereinbart. Doch das Regime des syrischen Machthabers Assad ist, unterstützt von russischen Luftangriffen, in der Offensive und macht keine Anstalten, nun die Waffen ruhen zu lassen. Im Gespräch erläutert Nahost-Experte Michael Lüders die Hintergründe der verzwickten Lage im Bürgerkriegsland.

Michael Lüders

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Michael Lüders ist deutscher Politikwissenschafter, Islamwissenschafter und Publizist . Er bereiste als Nahost-Korrespondent der «Zeit» viele arabische Länder. Lüders berät unter anderem das deutsche Auswärtige Amt. Zu seinem Fachgebiet zählt die Ursachenforschung islamistischer Gewalt.

SRF News: Die anvisierte Waffenruhe, die Ende Woche in Syrien hätte in Kraft treten sollen, scheint das Gegenteil bewirkt zu haben: Die Kämpfe intensivierten sich, inzwischen beschiesst sogar die Türkei Kurdenstellungen in Nordsyrien...

Michael Lüders: Tatsächlich passiert in Syrien derzeit genau das Gegenteil dessen, was eigentlich vereinbart worden ist. Es sieht nicht danach aus, dass die Waffenruhe Ende Woche in Kraft tritt. Der Grund liegt vor allem darin, dass die syrische Armee in der Region von Aleppo vorrückt. Sie ist dort mit russischer Luftunterstützung dabei, die letzten Stellungen der sogenannten Opposition – das sind vor allem Islamisten – zu überrollen. Bereits sind die Nachschublinien der Aufständischen – oder Terroristen, wie auch immer man sie nennen will – unterbrochen. Nun hoffen Assad und die ihn unterstützenden Russen, diesen symbolischen Sieg zu erreichen. Denn: Sollte Aleppo wieder vollständig unter Kontrolle des syrischen Regimes kommen, so hätten sich alle Spekulationen um einen Regimewechsel in Damaskus erledigt.

Damit sind also Assad und Russland die Nutzniesser der angekündigten Waffenruhe?

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Derzeit profitieren ganz klar die Russen, Iraner, Chinesen sowie die Regierung in Damaskus vom Momentum. Es sind diese drei Staaten, die hinter dem Assad-Regime stehen, während die westlichen Staaten sowie Saudi-Arabien und die Türkei einen Regimewechsel herbeiführen wollen. Es geht dabei um Macht- und Geopolitik; Menschenrechte spielen keine Rolle. Natürlich ist das Assad-Regime äusserst brutal – aber das sind andere Machthaber auch, ohne dass man einen Regimewechsel anstreben würde. Der Westen und die USA waren in den vergangenen Jahren sehr unschlüssig, wie sie einen Machtwechsel in Syrien erwirken wollen. Es wurde sehr viel Geld in vermeintlich gemässigte Oppositionsgruppen investiert, die es so aber gar nie gegeben hat. Diese Strategie ist vollständig gescheitert, denn es gibt in Syrien keine einzige Gruppierung unter Waffen, die pro-westlich wäre oder demokratisch-liberale Grundsätze vertreten würde. Die meisten Oppositionsgruppen bestehen aus radikalen Islamisten.

Ungeachtet seiner Brutalität steht immer noch die Hälfte der Syrer zu Assad – wenn auch nicht aus Liebe zu ihm»

Sie selber sagten früher, dass Assad in Syrien Teil einer Lösung sein müsse. Bleiben Sie dabei?

Auf jeden Fall. Ungeachtet der Tatsache, dass Assad ein sehr brutaler Diktator ist, steht immer noch rund die Hälfte der Syrer auf seiner Seite. Es ist eine falsche Wahrnehmung bei uns im Westen, dass die Mehrheit seinen Sturz will. Vor allem die religiösen Minderheiten, aber auch die sunnitischen Mittelschichten stehen nach wie vor auf der Seite dieses Regimes. Sie tun dies nicht aus Liebe zu Diktator Assad. Für sie ist die Pest dessen, was sie kennen, immer noch berechenbarer als die Cholera eines Einmarsches radikaler Islamisten in Damaskus. Zudem wird die Lage in Syrien immer gefährlicher, weil immer mehr Akteure von aussen einwirken. So fühlt sich nun auch die Türkei durch den Siegeszug der von Russland und Iran unterstützten syrischen Armee herausgefordert. Ankara überlegt laut, in Syrien einzugreifen und die Kurden im Norden zu bekämpfen. Die Türken tun das zwar bereits aus der Luft, doch Erdogan würde am liebsten türkische Bodentruppen nach Syrien entsenden, während seine Militärs davor warnen und zur Zurückhaltung mahnen. Dennoch ist völlig offen, was in den nächsten Wochen passieren wird. Es ist durchaus denkbar, dass die Türkei und Saudi-Arabien in den syrischen Bürgerkrieg eingreifen. Dann wird es sehr gefährlich: Man stelle sich vor, Türken und Russen bekämpfen sich gegenseitig in Syrien – oder sogar Russen und Amerikaner.

Die Gunst der Stunde liegt eindeutig auf der Seite Moskaus.

Ein Konfliktforschungsinstitut in den USA sagt, Russland könne seinen Einfluss in Ostsyrien im Windschatten der Waffenruhe festigen und sich dort eine Einflusszone schaffen. Zeichnet sich eine Zweiteilung von Syrien ab?

Mindestens eine Zweiteilung. Syrien als Zentralstaat gibt es nur noch auf Papier. Es gibt im Land mehr als 1000 Gruppen, Grüppchen und Banden, die sich gegenseitig bekämpfen. Hinzu kommt die Einflussnahme von externen Akteuren. Die zentralen und fruchtbarsten Gebiete – sie erstrecken sich von der jordanischen bis zur türkischen Grenze sowie am Mittelmeer – werden vor allem von Alawiten bewohnt, zu denen auch der Assad-Clan gehört. Dieses Kern-Syrien mit der Hauptstadt Damaskus wird dank russischer und iranischer Unterstützung sicherlich erhalten bleiben. Doch die übrigen Landesteile Syriens sehen einer ungewissen Zukunft entgegen. Es ist völlig offen, ob es gelingt den «Islamischen Staat» zu besiegen, der immer noch die Hälfte des syrischen Staatsgebiets kontrolliert. Zudem gibt es andere radikalislamische Gruppen, wie etwa die Nusra-Front, ein Ableger der Al-Kaida. Erstaunlicherweise wird sie von den USA unterstützt. Alles in allem haben wir in Syrien eine sehr unübersichtliche Gemengenlage. Dabei liegt die Gunst der Stunde eindeutig auf der Seite Moskaus.

Angesichts dieser verworrenen Lage: Glauben Sie noch an einen Waffenstillstand?

Nein, der für Ende Woche angepeilte Waffenstillstand wird nicht halten. Später wird es sicher Übereinkommen geben, wenn die Frontlinien etwas klarer sind. Doch die grosse, umfassende Friedenslösung für Syrien wird noch Jahre auf sich warten lassen. Man wird zunächst regionale Waffenstillstände aushandeln müssen. Wenn das nicht gelingt, wird sich die Flüchtlingsbewegung fortsetzen. Denn in Syrien kann man – wenn man sich nicht einer Miliz anschliessen will – nur die Flucht ergreifen. Mittlerweile hat das auch mehr als die Hälfte der syrischen Bevölkerung, die ursprünglich 23 Millionen betragen hatte, getan. Entsprechend wird die Flüchtlingskrise Europa auch in den nächsten Jahren noch massiv heimsuchen.

Das Gespräch führte Rino Curti.

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