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International Lille: Bei den Ch'tis ist Rot nicht mehr Trumpf

In Lille tritt die Schweizer Nationalmannschaft heute zum grossen Euro-Showdown gegen Frankreich an. Die Stadt im Nordosten Frankreichs war jahrzehntelang eine Hochburg der französischen Sozialisten. Doch das war einmal. Ein Augenschein vor Ort.

Einst waren Lille und der ganze Nordosten Frankreichs eine tiefrote Region. Doch das ist längst Vergangenheit. Heute kämpft hier die Parti socialiste von François Hollande gegen sinkende Wähleranteile und Mitgliederschwund.

Weshalb vertrauen immer weniger Ch'tis, wie die Bewohner der Region genannt werden, den Sozialisten? SRF-Korrespondent Charles Liebherr hat sich in Lille umgehört.

Coralie hät ein Souvenir mit der Aufschrift Lille hoch.
Legende: Coralie verkauft in Lille regionale Delikatessen. SRF/Liebherr

Die verlorene Leidenschaft

Ausgangspunkt ist das Lebensmittelgeschäft von Coralie. Der Laden trotzt der Zeit. Über die Strasse gibt es Fastfood aus Amerika, links nebenan einen englischen Sportwettenanbieter und rechts Mode aus Italien. Bei Coralie stehen nur Spezialitäten aus dem Land der Ch'tis im Regal.

Die Ch’tis ernähren sich von allem, was die Erde hergibt, auf dem Hof heranwächst und im Keller gebraut wird, erklärt Verkäuferin Coralie: «Wir Ch'tis essen leidenschaftlich viel Fleisch, ewig gekocht, kalt gegessen und serviert mit Frites und Bier.»

Die andere Leidenschaft der Ch'tis war einmal die Politik, insbesondere rote Politik. Lille, die Metropole, die Region, der ganze Norden war einmal fest in roter Hand – seit Generationen. Wer Coralie zuhört, erkennt aber rasch, dass diese Zeit vorbei ist: «Ärmel hochkrempeln, sollte die Devise heissen, arbeiten, mehr als 35 Stunden die Woche, nicht weniger», sagt die Verkäuferin.

Das war von den Sozialisten in Lille einmal anders angedacht. Beispielsweise von Martine Aubry, ehemalige Ministerin für Arbeit und Solidarität sowie Mutter der 35-Stunden Woche.

Brutale Klatsche für die Sozialisten

Die Spielorte der Schweizer Nati

Je mehr ihr Präsident in Paris nach rechts rückt, umso lauter verspricht Aubry eine andere, linke Politik. Unglücklicherweise hat sie damit aber fast ihr ganzes politisches Hinterland verloren: Nur in Lille konnte sie sich als Bürgermeisterin halten.

Bei den Regionalwahlen vor einem halben Jahr straften die Wähler die Sozialisten brutal ab. Nicht einen einzigen Sitz mehr haben die Sozialisten in Parlament der Region. Dafür Millionen Euro Schulden.

Wir Sozialisten sind gespalten. Niemand versteht uns mehr, weil alle etwas anderes versprechen.
Autor: Martine Filleul Regionale Parteipräsidentin der PS
Martine Filleul in ihrem Büro.
Legende: «Lille ist meine politische Heimat. Die Partei wird wieder bessere Zeiten erleben», sagt Martine Filleul kämpferisch. SRF/Liebherr

Am Sitz der Parti socialiste du Nord, gleich neben dem Rathaus von Lille sieht man die Folgen: Die Dame am Empfang arbeitet ohne Lohn und nur noch einen halben Tag die Woche. Einen Stock höher empfängt uns Martine Filleul, regionale Parteipräsidentin, Konkursverwalterin und Wahlbeobachterin: «Wir Sozialisten sind gespalten. Niemand versteht uns mehr, weil alle etwas anderes versprechen», klagt sie.

Es liegt nicht nur an den Worten, auch die Taten fehlen. Zum Beispiel, um die hohe Arbeitslosigkeit in Lille zu senken. Martine Filleul relativiert: «Unsere Wähler anerkennen zu wenig, dass wir den Sozialstaat bewahrten, trotz der tiefen Wirtschaftskrise. Vielleicht sind sie zu anspruchsvoll geworden.»

Der Front National als Profiteur

Webreportage

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Die Besuche unseres Korrespondenten an den Schweizer EM-Spielorten gibt es auch als grosse Webreportagen. Hier finden Sie weitere Geschichten und Bilder zu Lille, Lens und Paris.

Leichtes Spiel für politische Gegner: Sie haben den Norden als neues Tummelfeld entdeckt; hier gibt es viel zu gewinnen. Für den Front National und in dessen Fahrwasser auch für Sarkozys Les Républicains. Beide versprechen weniger Flüchtlinge und mehr Arbeitsplätze. Mehr braucht es nicht, um Wahlen zu gewinnen.

Martine Filleul schaut zu und wartet ab: «Wir Sozialisten werden auch wieder mal bessere Zeiten erleben.» Bis dahin muss Filleul aber die Parteizentrale verkaufen und Geld eintreiben, bei einer schrumpfenden Zahl Mitglieder, damit die Parteikasse wieder ins Lot kommt.

Im Café de l'Hotel de Ville lächelt Beizer Jean-Paul. Den Niedergang der Sozialisten beobachtet er ohne Emotionen. Denn Politik interessiert ihn nicht, nicht mehr. Jean-Paul sagt damit, was viele sagen im ehemals so roten Lille.

Die Euro bringt uns hoffentlich etwas Geld.
Autor: Jean-Paul Beizer in Lille

Sein Bistro liegt nur einen Steinwurf entfernt von der Parteizentrale der Sozialisten und vom Bürgermeisteramt von Martine Aubry. Deren Wege kreuzen sich nie: «Aubry kommt nie hierher. Ich denke, sie weiss, warum», sagt Jean-Paul.

Einverstanden. Lieber nicht über Politik reden in Lille. Les Ch'tis sind kein Volk der überflüssigen Worte. Selbst wenn es um Fussball geht, bleiben die Sätze kurz bei Jean-Paul: «Die Euro bringt uns hoffentlich etwas Geld», sagt er nüchtern.

Man hofft auf etwas wirtschaftlichen und viel sportlichen Erfolg am Sonntag. Erfolg für die Blauen, «Les Bleus» gegen die Rot-Weissen, Les Suisses. Blau ist die Parteifarbe der neuen bürgerlichen Mehrheit im Nordosten Frankreichs, Les Républicains. Blau, Weiss, Rot lodert die Flamme im Logo des Front-National – der zweitgrössten Partei der Region. Rot steht in Lille im Abseits.

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