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Eine Frau läuft mit einem Zettel in der Hand vor einem bewaffneten Mann vorbei.
Legende: Laut den Separatisten war die Wahlbeteiligung «überwältigend». Journalisten vor Ort bezweifeln das. Keystone/Symbolbild

International So funktionieren die Referenden in der Ostukraine

Alte Wählerregister, Urnen in Zelten und viel Risiko – die von pro-russischen Separatisten aus dem Boden gestanzten Referenden über eine Unabhängigkeit von Kiew werden im Ausland mit Argwohn beobachtet. Was wollen die Aktivisten? Und welche Folgen könnte eine Annahme haben? Hier einige Antworten.

Worüber wurde abgestimmt?

Die mehr als drei Millionen Einwohner der russisch geprägten Gebiete Donezk und Lugansk hatten zu entscheiden, ob sie eine Abspaltung von der pro-westlichen Zentralregierung in Kiew unterstützen. In Donezk lautete die Frage, welche die Aktivisten den Bewohnern vorlegten: «Unterstützen Sie den Akt der Unabhängigkeit der Volksrepublik Donezk?» In Lugansk lautet die Frage gleich, nur mit entsprechender Ortsanpassung.

Wahlzettel für die Bewohner in Donezk
Legende: Die Wahlzettel entsprechen nicht den gesetzlichen Vorschriften. Für Sicherheitsmerkmale fehlte laut Aktivisten das Geld. Keystone

Welches Ziel verfolgen die Separatisten?

Die pro-russischen Aktivisten wollen zuerst Lugansk und Donezk Kiews Einflussbereich entziehen, um dann andere Regionen zum Beitritt zu bewegen. Analog zur historischen russischen Provinz Neurussland soll ein Staat namens «Novorossija» gebildet werden.

Ein Anschluss an Russland nach dem umstrittenen Vorbild der Schwarzmeerinsel Krim ist zwar zunächst nicht geplant. Aber zumindest auf Russland als militärische und wirtschaftliche Schutzmacht wollen sich die Kräfte künftig verlassen können.

Wie sind die Wahlen organisiert?

Die Organisation der Referenden weist offene Flanken auf. Die Wahllisten, die normalerweise bei Abstimmungen zum Einsatz kommen, werden von der zentralen Wahlkommission in der Hauptstadt Kiew «blockiert». Die Wahlen finden aufgrund von Meldedaten statt, welche die Separatisten in den von ihnen besetzten Verwaltungsgebäuden gefunden haben. Die Listen sind zwei Jahre alt.

Ein Mann fertigt Wahlurnen an.
Legende: Ob in Schulen oder in Zelten – überall wurden Wahlkommissionen gebildet. Keystone

Der Stimmzettel ist ein kopiertes Blatt – ohne jegliche Sicherheitsmerkmale, die unberechtigte Vervielfältigungen verhindern könnten. Wahllokale wurden in Schulen, Spitälern und auch in Zelten eingerichtet.

Nach Ende der Abstimmungen wurden die Wahlurnen per Auto in die beiden Bezirkshauptstädte gebracht. Dabei mussten die Fahrer zahlreiche Kontrollstellen passieren, die sowohl von den pro-russischen Separatisten als auch von den ukrainischen Sicherheitskräften errichtet wurden.

In Donezk hatten die Organisatoren umgerechnet rund 1200 Euro für das Referendum zur Verfügung. Mit rund 500 Euro schlagen die Farbpatronen für die drei geliehenen Drucker zu Buche, auf denen die Wahlzettel gedruckt wurden.

War es eine faire Abstimmung?

Traut man einem vom ukrainischen Geheimdienst veröffentlichten Telefon-Mitschnitt, stand das Ergebnis des Abspaltungs-Referendums in Donezk schon fest: «Mach, was Du willst und schreibe 99 Prozent auf», ist auf der Aufnahme zu hören. Laut dem Geheimdienst stammt sie aus einem Telefonat zwischen einem Anführer der pro-russischen Aktivisten und einem Rebellenführer in Donezk. Die Echtheit der Aufnahme konnte die Nachrichtenagentur Reuters nicht überprüfen. Aber sie zeigt, dass bei der Abstimmung Fälschungen alles andere als auszuschliessen sind.

Bewaffnete und maskierte Männer
Legende: Die Lage in der Ukraine ist aufgeheizt. Die umstrittenen Referenden könnten der letzte Schritt in den Bürgerkrieg sein. Reuters

Auch SRF-Korrespondent Christof Franzen glaubt, dass die Separatisten ein Fantasie-Resultat bekannt gaben.

Westliche Beobachter waren bei den Referenden nicht vor Ort. Es ist war auch keine Mindestbeteiligung vorgeschrieben, damit das Ergebnis Gültigkeit erlangt.

Welche Folgen könnte ein Ja haben?

Was nach den Abstimmungen in der Ukraine genau passieren wird, ist schwierig vorherzusagen. Möglich sind laut Experten mehrere Szenarien, so zum Beispiel:

  • Bürgerkrieg

Die beiden Referenden könnten darüber entscheiden, ob die Ukraine tatsächlich in einen Bürgerkrieg abrutscht. Die Gefahr dafür könnte steigen, weil pro-ukrainische Kräfte eine Abspaltung der Gebiete verhindern wollen. Schon jetzt ruft die Führung in Kiew Patrioten auf, sich der neu geschaffenen Nationalgarde sowie Bürgerwehren anzuschliessen, um gegen Separatismus zu kämpfen.

  • «Gefrorener Konflikt»

Möglicherweise führt es die Ukraine aber auch in einen «gefrorenen Konflikt», von denen es in der Nachbarschaft Russlands schon einige gibt. Die «Volksrepublik Donezk» oder auch Lugansk könnten sich einreihen neben Gebiete wie Abchasien und Süd-Ossetien in Georgien, Nagorni-Karabach in Aserbaidschan und Transnistrien in Moldau. All diese selbsternannten Ministaaten entstanden nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991. Kaum ein Land erkennt sie an, die meisten Länder ignorieren sie schlicht.

  • Annexion

Experten gehen eher nicht davon aus, dass Russland die beiden Oblaste in sein Territorium aufnehmen wird – wohl auch mit Rücksicht auf mögliche neue Sanktionen des Westens. Moskau wird sich aber wohl weiter für die Rechte der russischsprachigen Bevölkerung in der Ostukraine einsetzen.

Wie interessant ist die Ostukraine überhaupt für Russland?

Die Region ist keine Perle wie die Krim, sondern ein strukturschwaches Gebiet. Die Anlagen im Osten der Ukraine gelten als veraltet, zur Modernisierung wären grosse Investitionen nötig. Russland hat sich schon mit der Eingliederung der Krim Kosten von mehreren Milliarden pro Jahr aufgebürdet. Andererseits wird das russische Verhalten derzeit nicht in erster Linie ökonomisch getrieben.

Karte der Ostukraine
Legende: Wie es in Donezk und Lugansk weitergeht, ist ungewiss. SRF

Was würde die Ukraine verlieren?

Der Osten der Ukraine ist zwar nicht der Inbegriff einer blühenden Landschaft, dafür aber das industrielle Herz des Landes. In der Region um Donezk sind zahlreiche Zechen und Stahlwerke angesiedelt. Sollten die Menschen dort für die Unabhängigkeit stimmen, dürfte dies nach Einschätzung von Experten schwere wirtschaftliche Folgen für die Ukraine haben: Rund zehn Prozent der Wirtschaftsleistung des Landes werden in Donezk erwirtschaftet und weitere fünf Prozent in Lugansk, wo die Bevölkerung ebenfalls zur Abstimmung aufgerufen ist.

Wie verhält sich die pro-westliche Führung in Kiew?

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Die Regierung in Kiew wird das Ergebnis der Referenden mit grosser Wahrscheinlichkeit zurückweisen. Sie schlägt ein eigenes Referendum über eine stärkere Dezentralisierung vor – allerdings erst, wenn die Kämpfe beendet sind. Zudem will man Gespräche mit politischen Vertretern aller Regionen führen. Einen Dialog mit Bewaffneten lehnt Kiew aber ab.

Erkennt der Westen die Referenden an?

Wie die pro-westliche Regierung in Kiew verurteilen auch die EU und die USA diese Volksabstimmungen als klaren Rechtsbruch. Sie drohen Russland mit weiteren, noch schärferen Sanktionen. Die Aufforderung des russischen Präsidenten Wladimir Putin an die Separatisten, die Referenden zu verschieben, gilt ihnen nur als weiterer Schachzug des gewieften Ex-Geheimdienstlers.

Ob das Ergebnis von Referenden international anerkannt wird, hängt von mehreren Kriterien ab. Die «Venedig-Kommission» des Europarates formulierte 2007 eine Norm für solche Abstimmungen. Demnach sollen Volksabstimmungen – und Wahlen – frei, geheim und direkt sein sowie mit übergeordneten Gesetzen eines Landes übereinstimmen. Zudem müssten nationale und internationale Beobachter ihren Aufgaben nachgehen können.

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