Dass ein Künstler mit einem Werk Erfolg hat, ist nichts Besonderes. Dass er mit einem Werk gesellschaftliche Diskussionen auslöst, auch nicht. Aber dass ein Künstler dies mit einer Aktion über 23 Jahre hinweg schafft, ist aussergewöhnlich.
Wir stehen vor einem stattlichen Berliner Wohnhaus. Grosse Hamburger Strasse Nummer 30. Ins Trottoir vor dem Eingang eingelassen sind einige golden glänzende Pflastersteine. «Hier wohnte Max Sittner. Jahrgang 1870, deportiert 1942 nach Theresienstadt, ermordet Dezember 1943», steht eingraviert auf einem davon. Daneben der Erinnerungsstein an seine Frau, Melanie Sittner: gleiches Schicksal. Daneben gruppiert: drei Steine für die Familie Raesner: Vater, Mutter, Tochter: alle deportiert nach Riga, alle dort umgebracht 1941.
Bei vielen Passanten auf dem Weg zur Arbeit, zum Coiffeur oder ins gegenüber liegende Restaurant stossen die «Stolpersteine» auf Zustimmung. «Das braucht es schon», sagt etwa ein pensionierter Mathematiklehrer, nachdem er die Pflastersteine kurz angeschaut hat: «Ich find's schon ganz interessant zu sehen, wieviele Leute da gewohnt haben. Das macht mich manchmal auch sehr traurig.»
«Jedes Mal wenn man so einen Stein sieht, ist man wieder in der deutschen Geschichte drin», meint ein vorübergehender Kaufmann.
Viele Berliner beachten die «Stolpersteine» gar nicht
Die meisten Passanten gehen allerdings achtlos an den Steinen vorbei: «Die sind mir noch gar nicht aufgefallen», sagt eine Frau. Gleiches sagt eine andere, sehr junge Passantin. Darauf angesprochen, hält sie das Projekt dennoch für sinnvoll: «Dass man im Alltag sowas einbaut, wo die Menschen kurz innehalten, sich wundern und vielleicht drüber nachdenken».
Dieses Mass an Erinnerungskultur bei uns... Ich weiss auch nicht recht...
Es gibt aber auch skeptische Stimmen. Ein vorbeigehender Buchhalter meint: «Dieses Mass an Erinnerungskultur bei uns... Ich weiss auch nicht recht, was ich dazu denken soll».
In den Boden eingelassene kleine Mahnmale an Menschen, die in genau diesem – heute schön renovierten – Haus gelebt haben. Ein Apotheker, eine Lehrerin, ein Fabrikant, eine zwölfjährige Tochter, Familien, die von den Nazis hier herausgeholt worden sind, verschleppt, erschossen, vergast nur weil sie Juden waren. Oder homosexuell oder behindert.
Wenn man die Querstrasse hinunter blickt sieht man von hier aus die golden glänzende Kuppel der Synaoge an der Oranienburger Strasse. In diesem Gebiet wohnten vor dem Zweiten Weltkrieg sehr viele Juden. Hier hat Gunter Demnig besonders viele seiner Stolpersteine platziert. Hier durfte er auch.
Jüdischer Widerstand gegen die «Stolpersteine»
Das war und ist nicht überall so. In München beispielsweise geht das nicht. Nicht etwa, weil die konservativen Bayern das nicht wollten. Der Widerstand kommt dort von jüdischer Seite.
Auf Pflastersteinen am Boden trete man herum, machten Hunde ihr Geschäft, kritisierte Charlotte Knobloch, Präsidentin der israelitischen Kultusgemeinde München. So würden die Opfer ein weiteres Mal entwürdigt. Sie erwirkte für die Bayerische Hauptstadt ein Verbot der «Stolpersteine».
Andernorts kämpfte Gunter Demnig gegen komplizierte Bewilligungsverfahren an, gegen Bauvorschriften, Sicherheitsbestimmungen. Aber mittlerweile hat er in Deutschland und 17 weiteren Ländern über 50'000 dieser Steine platziert, darunter auch in der Schweiz. Und das sei auch gut so, meint ein Passant in Berlin, der sich als Kurator von Kunstausstellungen zu erkennen gibt. Immer wieder mal bleibe er auf seinem Weg durch Berlin stehen und lese die Inschriften auf den «Stolpersteinen».