Tagelang haben die Staats- und Regierungschefs der EU-Mitgliedstaaten über ein milliardenschweres Corona-Hilfspaket gestritten. Insgesamt sollen die besonders von der Pandemie betroffenen Länder nun 750 Milliarden Euro erhalten: 390 Milliarden in Form von Subventionen, während 350 Milliarden als Kredite vergeben werden, also zurückbezahlt werden müssen.
Die Einigung hält Historiker Christian Johann für einen Kompromiss, von dem jeder etwas hat.
SRF News: Ist der EU-Gipfel trotz der zähen Gespräche ein Erfolg?
Christian Johann: Alle sieben Jahre, wenn es um den Haushaltsplan geht, ist es so, dass man sich hinterher fragt: War das jetzt ein Erfolg oder nicht? Ich glaube, man muss diesmal mit einem klaren Jein antworten. Der Rechtsstaatlichkeitsmechanismus ist zahnlos geworden. Der Finanzrahmen ist ohne grosse Ambitionen geblieben. Und die Wiederaufbau-Instrumente sind sehr verwässert worden gegenüber den Vorschlägen im Mai.
Man hat hier wieder gesehen, wie die einzelnen nationalen Interessen am Ende doch der Trumpf sind, wenn man zu diesem Gipfel fährt.
Allerdings, und das ist positiv: Die EU ist immer noch handlungsfähig und findet Kompromisse. Und die Eigenschaft von Kompromissen ist auch, dass sie am Ende nicht für alle ganz zufriedenstellend sein können.
Wieso konnten sich Länder durchsetzen, etwa die Niederlande oder Österreich, aber auch Dänemark und Schweden, die weniger ausgeben wollten?
Die «Sparsamen Vier» wurden in Brüssel um Finnland ergänzt. Man müsste also sagen, die «Sparsamen Fünf». Sie sind alle Nettozahler und haben das genutzt, was man in solchen Konsensrunden nutzen kann: die Macht und den Einfluss.
Jeder hat etwas, was er mitbringen kann und kann zumindest einen kleinen Erfolg für sich verbuchen.
Am Ende ist es ja so: Wer die Kapelle bezahlt, der bestimmt die Musik. Das Bemerkenswerte dabei ist, dass die Lücke, die durch Grossbritanniens Weggang freigeworden ist, nun gefüllt wird von anderen wirtschaftsliberalen Politikern – wie dem niederländischen Premier Mark Rutte zum Beispiel.
Hat sich das Machtverhältnis mit dem Brexit verändert zugunsten dieser kleinen Länder auf Kosten der grossen wie Deutschland und Frankreich?
Ja. Aber nicht nur Grossbritannien hat da den Platz freigemacht, sondern auch Deutschland hat sich in der Person von Angela Merkel dem Süden zugewandt und gesagt, dass diese Hilfen unbedingt nötig seien. Sie hat damit die Position verlassen, die man zum Beispiel vom ehemaligen Finanzminister und heutigen Bundestagspräsidenten Wolfgang Schäuble sehr gut kannte.
Man hat den Eindruck, bei diesem Gipfel haben viele Staaten vor allem auf nationale Interessen geachtet. Ist in Zeiten der Krise nicht etwas der europäische Blick verloren gegangen?
Die EU ist immer auch von Eigeninteressen der Länder getragen. Das ist nichts Neues. Die Abgabe von politischer Macht an ein supranationales Instrument ist gar nicht so fest in der Geschichte der EU verwurzelt, wie man es manchmal gerne hätte. Man hat hier wieder gesehen, wie die nationalen Interessen am Ende doch der Trumpf sind, wenn man zu diesem Gipfel fährt.
Hat die EU die Ziele erreicht, die sie sich vor dem Gipfel gesetzt hatte, nämlich Solidarität und Grosszügigkeit in der Coronakrise?
Teilweise ja. Es ist tatsächlich aussergewöhnlich, zu sehen, dass die Briten nicht dabei sind, dass die Teilnehmenden mit Masken diskutieren und so hart miteinander ringen. Was am Ende jedoch ganz gewöhnlich ist, ist, dass man nicht ganz zufrieden ist, wenn man nach Hause kommt. Aber jeder hat etwas, was er mitbringen kann und kann zumindest einen kleinen Erfolg für sich verbuchen.
Das Gespräch führte Roger Aebli.