Durch seinen Feldstecher blickt Grischa Gabrieljan übers Tal. Auf einer Anhöhe in der Ferne ist ein kleines Feldlager mit der rot-blau-orangen armenischen Flagge zu sehen. 200 Meter daneben steht ein weiterer Mast mit blau-rot-grüner Flagge.
«Das sind unsere Leute», sagt Gabrieljan und deutet in Richtung der armenischen Fahne. Und dann, ganz nahe dran, sind die Aserbaidschaner. Grischa Gabrieljan war 33 Jahre lang Schuldirektor in Davitbek. Das Dorf liegt an einem bewaldeten Berghang im Süden Armeniens, direkt an der Grenze zu Aserbaidschan.
«Jetzt ist es noch ruhig», sagt Gabrieljan. «Aber wer weiss, wie es morgen oder in fünf Minuten aussieht.» Er erinnert sich an den Tag, als es in Davitbek nicht mehr ruhig war. «Es war Abend, meine Enkel schliefen schon, und ich ging in den Hof, um das Tor zu schliessen», erzählt Gabrieljan. «Dann hörte ich die Drohne.» Im Herbst 2020 kam Davitbek unter Beschuss, als zwischen Aserbaidschan und Armenien ein kurzer Krieg um das umstrittene Gebiet Bergkarabach ausbrach.
Kämpfe haben Schwäche der armenischen Armee entblösst
Nach einem Waffenstillstand entstand im Tal vor Davitbek eine Pufferzone unter Aufsicht russischer Truppen. «Manchmal verirrt sich eine Kuh in die Pufferzone. Dann müssen wir die Russen fragen, ob sie sie zurückholen können», sagt Anna Mnazakian, Lehrerin in Davitbek. Einmal sei eine ihrer Kühe hinter die Grenze verschwunden. «Die Aserbaidschaner wollten sie aber nicht hergeben. Die hatten wohl Hunger und haben sie gegessen.»
Davitbek – ein armenisches Dorf an der Grenze zu Aserbaidschan
Mnazakian kann darüber lachen, aber Davibek hat sich seit dem Angriff verändert. Viele Häuser stehen leer. Wo einst 300 Kinder in die Schule gingen, sind es heute nur noch 30.
Die Kämpfe von 2020 zeigten auf, wie schwach Armeniens Armee ist. Im vergangenen September eroberte Aserbaidschan Bergkarabach ganz zurück. Doch Baku lässt weiter tonnenweise Waffen importieren und fordert einen Korridor durch Südarmenien, um das aserbaidschanische Kernland mit der Exklave Nachitschewan zu verbinden.
Irgendwer muss uns beschützen. Die Russen, die Franzosen. Hauptsache, wir können bleiben.
Das Grenzgebiet bei Davitbek könnte das Einfallstor sein, sollte sich Aserbaidschan den Korridor mit Waffengewalt sichern wollen. «Irgendwer muss uns beschützen. Die Russen, die Franzosen. Hauptsache, wir können bleiben», sagt Anna Mnazakian.
Russland war hier lange die Schutzmacht, hat sich aber seit dem Krieg gegen die Ukraine abgewandt. Nun will Frankreich Waffen liefern, macht aber keine verbindlichen Versprechen, dem Land zu helfen.
«Wir bleiben. Niemand will unser Dorf aus Angst verlassen», wiederholt Mnazakian. Dass das Dorf leer sei, habe nichts mit dem Krieg zu tun. Abwanderung habe es schon immer gegeben.
Eine Züzügerin, die bleibt
Suhra Muzaffarowa sieht es anders. Sie stammt aus Usbekistan, hat in Moskau einen Mann aus Davitbek kennengelernt und geheiratet. 2016 ist sie hierhergezogen. Als sie ankam, gab es viel mehr Menschen. Nach 2020 seien viele gegangen.
In Davitbek wäre es so schön, wenn man einfach in Frieden leben könnte.
Ihre Verwandten aus Usbekistan hätten angeboten, dass sie zu ihnen ziehen könnten. «Aber Armenien ist mein zweites Zuhause. Die Leute hier sind gut zu mir», sagt Suhra Muzaffarowa.
Und trotzdem: Sie lebe hier in ständiger Angst. «Wenn ich meine Kinder in die Schule oder in den Kindergarten bringe.» Die Angst lasse nie nach. «In Davitbek wäre es so schön, wenn man einfach in Frieden leben könnte. Armenien braucht Hilfe», sagt die Usbekin. Während sie spricht, steigen ihr Tränen in die Augen.