Zum Inhalt springen

Konflikt in der Ostukraine «Wir Ukrainer sollten auf alles vorbereitet sein»

Russland lässt weiter die Muskeln spielen: Aus dem Säbelrasseln könnte auch mehr werden, so ein ukrainischer Politologe.

Die Spannungen zwischen Russland und der Ukraine halten an: Moskau hat massiv Truppen an die Grenze geschickt, Europa und USA haben sich hinter die Ukraine gestellt. In Kiew schaut man derweil besorgt auf die russische Militärmacht. Der Politologe Olexiy Haran vermutet zwar, dass der Kreml mit seinem Säbelrasseln bloss politische Zugeständnisse erzwingen will. Aber auch ein Überraschungsangriff sei nicht auszuschliessen.

«Ich muss wohl ein schlechter Politologe sein», sagt Olexiy Haran halb scherzhaft. Aber wenn man ihn 2014 gefragt hätte, ob Russland die Krim annektieren, ob es Truppen in die Ukraine schicken würde – dann hätte er gesagt: «Nein, niemals.»

Auf alles gefasst in Sachen Russland

«Aber genau das ist damals passiert.» Jetzt, sieben Jahre später, stehen wieder russische Truppen an der ukrainischen Grenze. Und Olexiy Haran, der als Professor an der renommierten Mohyla-Universität in Kiew lehrt, schaut mit Sorge nach Osten: «Wenn wir es mit Russland zu tun haben, müssen wir auf alles gefasst sein.» Ein gross angelegter Angriff – oder kleine, militärische Nadelstiche. Nichts sei auszuschliessen, glaubt Haran.

Ein ukrainischer Soldat an einem Beobachtungsposten in der Nähe von Donezk.
Legende: Ein ukrainischer Soldat an einem Beobachtungsposten in der Nähe von Donezk. Reuters

«Das wahrscheinlichstes Szenario aber ist wohl, dass Putin einfach den Einsatz erhöht, um dem Westen Zugeständnisse abzutrotzen.» Russland will die westlichen Sanktionen am liebsten weg haben – mindestens keine neuen aufgebrummt bekommen. Und es will international als Grossmacht wahrgenommen werden. Die Truppen an der ukrainischen Grenze sollen da Druck machen.

Putins Machtpoker

Und tatsächlich sieht es danach aus, dass Putins Rechnung mindestens teilweise aufgeht. «Angela Merkel und Emmanuel Macron haben sich schon mit Putin für Online-Verhandlungen getroffen. Dann hat ihn auch noch Joe Biden angerufen und ein Treffen vorgeschlagen. Besser könnte es für den russischen Präsidenten nicht laufen. Alle wollen was von ihm», so Haran.

Die Ukraine also ist – nicht zum ersten Mal in ihrer Geschichte – Opfer der geopolitischen Ambitionen des russischen Nachbarn. Wie aber sieht Haran die Rolle der eigenen Regierung, des ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenski? «Er war etwas naiv, als er 2019 an die Macht kam. Er dachte, er setze sich mit Putin an einen Tisch und löse alle Probleme. Tatsächlich ist die Ukraine im Konfliktgebiet den Russen weit entgegengekommen. Aber dann merkte Selenski, dass Putin ihn nur hinters Licht führt.»

Tatsächlich hatte es im vergangenen Jahr an der Front eine Entspannung gegeben: Die Gefechte wurden zeitweise eingestellt. Haran sagt, die pro-russischen Separatisten hätten aber dennoch immer wieder geschossen. Dutzende ukrainische Soldaten sind allein in diesem Jahr schon ums Leben gekommen.

Selenskis harter Kurs

Selenski hat deswegen auf einen harten Kurs gegenüber Russland umgeschwenkt. Im Februar liess er pro-russische TV-Kanäle schliessen, die ukrainischen Behörden gingen in der Folge auch gegen eine pro-russische Partei vor. «Noch jeder ukrainische Präsident hat bei seiner Amtszeit gesagt: Wir wollen mit Russland in Freundschaft leben. Aber nach einiger Zeit wurden stets klar: Diese Freundschaft ist nicht möglich.»

Der ukrainische Präsident Selenski bei einem Truppenbesuch im Donbass.
Legende: Der ukrainische Präsident Selenski bei einem Truppenbesuch im Donbass. Reuters

Grosse Teile der Ukraine haben über Jahrhunderte zum russischen Imperium gehört. Seit 30 Jahren ist die Ukraine ein unabhängiger Staat. Doch Russland hat seinen Herrschaftsanspruch nicht aufgegeben – die Panzer an der Grenze zeugen davon.

Wie gross ist also die Gefahr einer richtigen, schlimmen Eskalation? «Wenn die Russen vernünftig bleiben, kommt es wohl eher nicht zu einem grossen Krieg. Wir Ukrainer aber sollten auf alles vorbereitet sein, auch auf das Schlimmste», schliesst Politologe Haran.

Echo der Zeit, 18.4.21, 18 Uhr

Meistgelesene Artikel