In Frankreich hat es Ende Juni während mehrerer Tage grosse Krawalle mit Schäden in Millionenhöhe gegeben. Der französische Soziologe Michel Fize kennt die sogenannten «Banlieues» und erklärt das regelmässige Aufflammen der Unruhen.
SRF News: Wer sind die Krawallmacher?
Michel Fize: Die Krawallmacher waren mehrheitlich jung bis sehr jung. Aber ich glaube, es handelte sich um verschiedene Gruppen. Die erste Gruppe der Krawallmacher sind die Frustrierten: Sie sind frustriert durch verschiedene Misserfolge, familiäre Probleme, Versagen in der Schule oder auf dem Arbeitsmarkt. Diese Jugendlichen haben eine sehr dunkle Gegenwart und auch für die Zukunft haben sie keine grosse Hoffnung. Hierbei handelt es sich um die klassischen Jugendlichen aus den Vororten, die in Armut leben und oft einen Migrationshintergrund haben.
Eine zweite Gruppe ist die der Opportunisten: Das sind Jugendliche, die sich entweder aus Freude an der Zerstörung anschliessen oder mitmachen, um sich zu bereichern. So habe ich zum Beispiel ein Mädchen gesehen, das mit Kleidern unter den Armen aus einem geplünderten Kleidergeschäft herauskam.
Die dritte Gruppe sind die Provokateure: Sie sind da, um das Feuer zu schüren, sind oft politisch motiviert, entweder aus rechts- oder linksextremen Kreisen. Ich würde vor allem die gezielten Beschädigungen an Symbolen der Republik, wie Rathäuser, ihnen zuschreiben.
Warum ist der Frust gerade bei den Jugendlichen in den Vororten so gross?
Die Probleme der Vororte existieren schon lange, mindestens 40 Jahre. Man hat sie nie wirklich geregelt und so sind sie heute noch schlimmer als vor 20 Jahren, weil viel mehr Menschen betroffen sind. In den grossen Siedlungen sind familiäre Probleme, Erziehungsprobleme, Gewalt unter Jugendlichen an den Schulen, Armut und Arbeitslosigkeit besonders gross. Und dazu hat sich noch ein weiteres grosses Problem gesellt: der Drogenhandel.
Die Probleme der Jugendlichen in den Vororten werden nur gehört, wenn es brennt.
Die Bevölkerung in den Siedlungen ist sehr homogen geworden und überhaupt nicht integriert in der Gesellschaft. Der Staat hat zwar viel Geld investiert, scheint sich aber mehr für die Stadtplanung als für die Menschen zu interessieren. Die Probleme der Jugendlichen in den Vororten werden in Frankreich nur gehört, wenn es brennt.
Die Krawalle begannen, nachdem die Polizei einen Jugendlichen in einem Vorort von Paris erschossen hat. Wieso löst das solch heftige Reaktionen aus?
Die Beziehung der Polizei mit den Jugendlichen in den Vororten ist in Frankreich schon lange sehr schwierig. Vor 25 Jahren wurde die Nachbarschaftspolizei eingeführt, um diesem Problem entgegenzuwirken. Die Polizisten haben damals sogar sportliche Aktivitäten für die Jugendlichen organisiert. Aber im Jahr 2007 hat Präsident Sarkozy die Nachbarschaftspolizei abgeschafft. Er sagte, ein Polizist sei kein Animator. Die Polizei hat seither rein repressive Funktionen. Und gerade in den ärmeren Quartieren werden oft ethnisch motivierte Polizeikontrollen durchgeführt.
Es gibt regelmässig Vorfälle, die zu lokalen Krawallen führen, von denen aber kaum gesprochen wird.
Wenn dann ein Jugendlicher in einem sensiblen Vorort von der Polizei getötet wird, kommt der ganze Frust hervor und es kommt zu einer grossen Explosion. Die Krawalle können sich dann im ganzen Land ausbreiten, wie vor ein paar Wochen. Auch im Jahr 2005 haben die Krawalle so begonnen, damals haben sie sogar mehrere Wochen angedauert. Aber es gibt regelmässig kleinere Vorfälle, die zu lokalen Krawallen führen, von denen in den Medien aber kaum gesprochen wird. Es wurde zu einer Art Normalität.
Das Interview führte Mirjam Mathis.