Eine militärische Intervention in der Ukraine hat die Nato stets ausgeschlossen. Auch in Sachen Waffenlieferungen hat das Militärbündnis die Hoffnungen Kiews bereits mehrmals enttäuscht. Letzte Woche hat die Nato jedoch entschieden, nun auch schwere Waffen an die Ukraine zu liefern. Für Expertin Claudia Major von der Stiftung Wissenschaft und Politik ist der Schritt nachvollziehbar.
SRF News : Gibt die Nato ihre Zurückhaltung bezüglich der Ukraine mit dem Entscheid, Waffen zu liefern, auf?
Claudia Major: Nein. Ich würde sagen, dass die Nato an ihrer ursprünglichen Position festhält. Sie sagt nämlich, dass die Nato-Staaten nicht selbst aktiv Kriegspartei werden, indem sie beispielsweise eigene Truppen entsenden oder eine No-Fly-Zone einrichten. An dieser Position hat sich auch letzte Woche nichts verändert. Aber unterhalb dieser Position hat sich die Allianz tatsächlich bewegt und stellt sich neu auf.
Die Nato-Staaten sagen jetzt, wir müssen mehr liefern, wir müssen schneller liefern. Und wir müssen auch schwereres Material liefern. Schützenpanzerabwehr etwa. Und: Wir müssen auch überlegen, Material zu liefern, an dem die ukrainischen Streitkräfte erst ausgebildet werden müssen.
Zu Kriegsbeginn verzichtete die Nato auf Lieferungen von schweren Waffen. Das Argument: Man wolle Russland nicht provozieren. Warum nun dieser Sinneswandel?
Zum einen, weil man die unendliche Grausamkeit dieses Krieges, wie ihn Russland führt, immer wieder gesehen hat. Bei der Belagerung von Mariupol, wo keinerlei Rücksicht auf Zivilisten und zivile Infrastruktur genommen wurde. Aber auch nach dem Abzug der russischen Truppen aus den Vororten von Kiew, wo Kriegsverbrechen begangen wurden. Das hat der westlichen Gemeinschaft vor Augen geführt, dass Russland offenbar nicht gewillt ist, von seinem Kriegsziel, der Kontrolle über die Ukraine, abzurücken.
So wie der Krieg endet, wird entschieden, wie der Frieden sein wird.
Aus der Sicht der westlichen Staaten sollte Russland einen solchen Angriffs- und Vernichtungskrieg nicht gewinnen. Das heisst, man muss die Ukraine umso mehr befähigen, sich verteidigen zu können und besetzte Gebiete zurückzuerobern. Denn so wie der Krieg endet, wird entschieden, wie der Frieden sein wird, wie souverän die Ukraine sein wird, welche Grenzen sie haben wird.
Zu den eigenen Zielen und Werten der Nato gehört auch die Sicherung von Frieden und Stabilität. Ist sie im Fall der Ukraine damit nicht schon gescheitert?
Die Kernaufgabe der Nato ist die eines Verteidigungsbündnisses. Das ist der Schutz der eigenen Alliierten. Die Massnahmen, die sie in den letzten Wochen getroffen hat, waren defensiv, nicht eskalatorisch und angemessen. Sie haben darauf abgezielt, das eigene Territorium der Nato-Staaten zu schützen. Die Nato ist ja nicht der Weltpolizist, der weltweit für Stabilität sorgen soll.
Wir sehen im Krieg einmal mehr die Bedeutung eines Verteidigungsbündnisses.
Wenn ein Land Nato-Mitglied ist – und das ist die bittere Wahrheit aus diesem Krieg –, so hat es das Schutzversprechen. Nicht-Mitglieder wie die Ukraine, Georgien, Moldau oder Bosnien haben dieses Versprechen nicht.
Wir verstehen jetzt mit dem Krieg in der Ukraine umso mehr, warum die Ukraine Mitglied der Nato werden wollte: Weil es dann geschützt gewesen wäre, weil die Hoffnung herrschte, dass Russland diesen Schutzschirm der Nato akzeptiert hätte. Das heisst, wir sehen im Krieg einmal mehr die Bedeutung eines Verteidigungsbündnisses.
Das Gespräch führte Sandro Della Torre.