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Krieg in der Ukraine «Die Türkei wurde durch den Angriff auf Odessa blossgestellt»

Dass sich Russland nicht an das Getreide-Abkommen hält, düpiert das Land, das das Abkommen vermittelt hat: die Türkei.

Blockiertes Getreide sollte wieder per Schiff aus der Ukraine ausgeführt werden können. Kurz nachdem die Tinte unter dieser Vereinbarung am Freitag getrocknet war, griff Russland jedoch den Hafen von Odessa an. Vermittelt hatte die Vereinbarung die Türkei.

Diese sei vom Angriff «eiskalt erwischt» worden, erklärt Thomas Seibert, freier Journalist in Istanbul. Denn Präsident Recep Tayyip Erdogan sei zum Zeitpunkt des Raketenangriffs gerade auf einer Reise in der türkischen Provinz gewesen. Dort liess er sich als erfolgreicher Vermittler im Ukraine-Konflikt feiern.

Erst Dementi, dann Blossstellung

Der türkische Verteidigungsminister verbreitete daraufhin zunächst ein Dementi: Russland habe erklärt, es habe nichts mit diesem Angriff zu tun und wolle ihn untersuchen. «Die Türkei wurde dadurch, dass die Russen den Angriff auf Odessas Hafen am Sonntag schliesslich selbst bestätigten, quasi blossgestellt.»

Das Verhältnis zwischen den beiden Ländern sei dadurch gestört. Erdogan und Präsident Wladimir Putin hätten bisher zwar relativ gut zusammengearbeitet. «Aber jetzt fühlt sich die Türkei düpiert von den Russen, weil man zuerst an die Weltöffentlichkeit gegangen ist mit diesem Dementi, das sich dann als falsch herausstellte.»

Letzter offener Kanal nach Moskau

Das habe einen «Knacks» in der Beziehung gegeben. Wie ernst der ist, werde sich zeigen, so Seibert. Vor allem müsse man abwarten, ob Russland noch andere Häfen angreife. «Dann könnte sich ein wirklicher Bruch zwischen der Türkei und Russland andeuten.»

Die Folge wäre, dass einer der wenigen Gesprächskanäle zu den Russen, die noch offen sind, dann verstopft wäre. «Im Moment ist Erdogan einer der wenigen westlichen Staatschefs, die jederzeit mit Putin reden können. Das ist womöglich bald nicht mehr der Fall.»

Schiffseigner sind nicht erfreut

Derzeit sei das Abkommen noch in Kraft. «Sowohl die Ukraine als auch die Türkei haben erklärt, die Vorbereitungen für die erste Getreidelieferung aus ukrainischen Häfen liefen weiter.»

Allerdings habe der Angriff auf Odessa die Stützen des Abkommens ins Wanken gebracht: «Die Schiffseigner, die ihre Frachter in das Kriegsgebiet schicken müssen, werden wohl kaum begeistert sein, ein Schiff zum Beispiel nach Odessa zu entsenden, um dort Getreide zu laden, wenn dieser Hafen gerade angegriffen worden ist.»

Auch Schutz für russisches Getreide

In Istanbul wurde vergangenen Freitag nicht nur die Vereinbarung zwischen der Ukraine und Russland zur Sicherung der ukrainischen Getreidelieferungen unterzeichnet. Gleichzeitig ist auch ein Abkommen zwischen Russland und der UNO unterzeichnet worden.

Vorfall mit russischem Schiff: Getreide geklaut?

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Schiff Zhibek Zholy auf dem Meer
Legende: Die «Zhibek Zholy» durfte den Hafen von Karasu wieder verlassen. Reuters

Die Ukrainer hatten Anfang Juli schon einmal Kritik an der Türkei geäussert. Dabei ging es um einen russischen Frachter, der laut Kiew gestohlenes ukrainisches Getreide an Bord hatte. Die Türken hatten dieses Schiff zuerst im Hafen von Karasu festgesetzt, aber dann – gegen den Protest der Ukrainer – doch in russische Gewässer weiterfahren lassen. «Dies ist wieder so ein Fall, bei dem die Glaubwürdigkeit der Türkei auf dem Spiel steht», sagt Journalist Thomas Seibert dazu. «Wenn sich das häuft, dann könnte es sein, dass nicht mehr viel übrig bleibt von der türkischen Vermittlungsaktion in dem Konflikt.»

«Das soll sicherstellen, dass die russischen Getreide-Exporte durch das Schwarze Meer ungestört laufen», weiss der Journalist. Nun stehe der Verdacht im Raum, dass Russland das Abkommen mit der UNO anstrebte, jenes mit der Ukraine aber weniger ernst nehme.

Für die Türkei, die sich in der Rolle als Vermittlerin sieht, die sie in den letzten Wochen und Monaten aufgebaut hat, ist das ein Rückschlag. «Das grösste Kapital für einen Vermittler ist das Vertrauen, ist die Glaubwürdigkeit. Diese ist jetzt erst einmal angeknackst dadurch, dass man falsche Stellungnahmen der Russen verbreitet hat.»

HeuteMorgen, 25.07.2022, 07:00 Uhr ; 

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