Zum Inhalt springen

Krieg in der Ukraine «Die Ukraine kämpft, um sich selbst zu verteidigen»

Was ist ein Stellvertreterkrieg? In den Politikwissenschaften wird «Stellvertreterkrieg» als Unterkategorie im Bereich der Konfliktdelegation verwendet. Wie der Begriff schon andeutet, bedeutet dies: Ein Staat, in vielen Fällen eine Grossmacht, führt nicht selber Krieg, sondern delegiert ihn sozusagen an eine oder mehrere Untergruppen.

Hier feuert die ukrainische Armee eine polnische Haubitze in Richtung russische Stellungen ab.
Legende: Nicht nur die USA unterstützen die Ukraine. Hier feuert die ukrainische Armee mit einer polnischen Haubitze ein Geschoss in Richtung russische Stellungen ab. REUTERS/Oleksandr Ratushniak

Dabei will der delegierende Staat bei der für ihn kriegsführenden Gruppe ein bestimmtes Mass an Kontrolle ausüben und dort seine Interessen durchsetzen. Oder bildlich gesprochen: Die Grossmacht ist der Schachspieler, die Untergruppen sind die Figuren.

Welche Arten von Stellvertreterkriegen gibt es? Grundsätzlich gibt es zwei Typen von Stellvertreterkriegen. Lars-Erik Cederman, Politikwissenschaftler und Professor am Lehrstuhl für Internationale Konfliktforschung an der ETH Zürich, erklärt: «Entweder unterstützt ein Staat nicht-staatliche Akteure, wie beispielsweise Rebellen, im Zusammenhang eines Bürgerkriegs. Oder eine Grossmacht unterstützt einen kleineren Staat im Kampf gegen eine andere Grossmacht.»

Handelt es sich im Krieg in der Ukraine um einen Stellvertreterkrieg? Tatsächlich scheint die zweitgenannte Logik für den Krieg in der Ukraine teilweise zutreffend. Immerhin unterstützt mit den USA eine Grossmacht die Ukraine im Kampf gegen Russland. Dies sieht auch Cederman so. Doch er relativiert: Man dürfe die «direkte Kriegslogik» nicht unterschätzen: «Die Ukraine kämpft nicht nur für die USA, sondern auch, um sich selbst zu verteidigen.» So sei es falsch, die Ukraine als reinen Spielball der Mächtigen zu benennen.

Der britische Politikwissenschaftler Lawrence Freedman hatte bereits im April betont, dass es falsch sei, den Krieg in der Ukraine als Stellvertreterkrieg zu bezeichnen. Wer dies tue, ignoriere die eigenen Ziele der Ukraine. Auch Cederman betont: «Sogenannte Kleinstaaten sind nicht nur Bauern im Schachspiel, sondern haben einen eigenen Willen.» Und er fügt an: «Die Ukraine ist mit fast 44 Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern übrigens kein Kleinstaat.»

Weshalb kann der Begriff problematisch sein? Das zeigt das aktuelle Beispiel: Wer den Krieg in der Ukraine als Stellvertreterkrieg der USA bezeichnet, suggeriert, dass erstens die USA die Ukraine benutzen, um ihren Einfluss auszudehnen, und stellt zweitens die Ukraine als blossen Spielball dar. «Wir dürfen nicht vergessen, dass Russland der Angreifer ist», betont Cederman. Zudem habe sich die vom Volk gewählte Regierung in Kiew «ganz klar» entschieden, sich Richtung Westen zu orientieren. Der brutale Angriff Russlands mache diese Orientierung um so verständlicher. «Wer wählt freiwillig Putins Terrorregime?», fragt Cederman.

Für den deutschen Politikwissenschaftler Carlo Masala ist die Bezeichnung des Stellvertreterkriegs für den Krieg in der Ukraine zudem ein Anzeichen für Anti-Amerikanismus, also der «extremen und verächtlichen Ablehnung der USA beziehungsweise ihrer Politik, Kultur, Wirtschaft oder Gesellschaft».

Gab es in der Vergangenheit Stellvertreterkriege? Die gab es. Hochkonjunktur hatte der Begriff vor allem während des Kalten Kriegs. Auch die US-Regierungen haben in Vergangenheit zweifellos versucht, den Einfluss des Westens «ziemlich aggressiv auszudehnen», so Cederman.

Schlagende Beispiele sind die Kriege in Korea und in Vietnam (siehe Box). «Aber dies heisst nicht, dass Joe Biden diese Priorität hat. Die USA wollten diesen Krieg verhindern», betont Cederman.

Stellvertreterkrieg: Weshalb Putin diesen Begriff verwendet

Box aufklappen Box zuklappen

Nur weil der Krieg in der Ukraine nicht die Merkmale eines Stellvertreterkriegs aufweist, bedeutet dies nicht, dass es solche Kriege nie gegeben hat. Franziska Anna Zaugg, Dozentin am Departement für Zeitgeschichte der Universität Freiburg und Assoziierte Forscherin an der Universität Bern, hebt vor allem fünf Stellvertreterkriege hervor: den Vietnam-Krieg, den Korea-Krieg, die Invasion der Sowjetunion in Afghanistan, den Ogadenkrieg in Äthiopien und den Bürgerkrieg in Angola.

«Alle genannten Beispiele sind zeitlich in der Ära des Kalten Krieges zu verorten», sagt Zaugg. Die Beispiele Angola und Äthiopien würden zudem zeigen, wie eng Stellvertreterkriege nicht nur mit der bipolaren Weltordnung des Kalten Kriegs – also dem damaligen Wettkampf zwischen den USA und der Sowjetunion –, sondern auch mit dem «schweren Erbe der Kolonialzeit, dem Machtvakuum und den teilweise unklaren bis chaotischen politischen Zuständen während der Dekolonialisierung» zusammenhängen.

Ein Begriff, um die Schuld von sich zu weisen

Auch Zaugg betont: Der Krieg in der Ukraine sei kein Stellvertreterkrieg. Dass Putin ihn aber als solchen bezeichnet haben will, passe in seine Strategie. «Er will eine Kontinuität zu den Verhältnissen, Absichten und Motiven der Westmächte im Kalten Krieg herstellen», sagt sie. Damals hatten die Grossmächte auf beiden Seiten politisch-ideologische und geostrategische, aber auch wirtschaftliche Interessen. Oder anders formuliert: Die Aggressoren waren in beiden Lagern – und die damalige Sowjetunion musste sich gegen die Westmächte verteidigen.

Indem Putin also seine Invasion in der Ukraine als US-amerikanischen Stellvertreterkrieg bezeichnet, will er die Schuld von sich weisen. Seine Argumentation: Das russische Eingreifen wurde provoziert durch Interessen westlicher Grossmächte. Dass dies nicht stimmt, betont Zaugg: «Beim russischen Angriff handelt es sich um einen Angriffskrieg einer zeitgenössischen und historischen Grossmacht auf einen kleinen Nachbarstaat.»

SRF 4 News, 23.01.2023, 17 Uhr

Meistgelesene Artikel