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Krieg in der Ukraine Lwiw – eine Stadt zwischen Krieg und Alltag

Im westukrainischen Lwiw ist der Krieg stets präsent, doch irgendwie geht das Leben auch einfach normal weiter.

Konstantin ist tot. Er ist gefallen im Krieg gegen die Russen. Auf dem Lytschakivski-Friedhof von Lwiw hat sich eine Menschenmenge versammelt, fast alle in Schwarz. Drei Priester singen «Herr, Erbarme Dich». 

Der Leichnam von Konstantin liegt in einem offenen Sarg. Er hinterlässt zwei Kinder und eine Frau. Als Soldaten in Tarnuniform den Deckel auf den Sarg schrauben, steht die Witwe mit schmerzverzerrtem Gesicht daneben. Der Krieg hat den Tod auch nach Lwiw gebracht.

Der Krieg bricht in die Idylle ein

Lwiw, zu Deutsch Lemberg, ist die grösste ukrainische Stadt im Westen des Landes; von hier sind es nur rund 70 Kilometer an die polnische Grenze. Seit Krieg herrscht, ist Lwiw zu einer gewaltigen Drehscheibe geworden – 200'000 Flüchtlingen haben hier Unterschlupf gefunden, humanitäre Hilfe und mutmasslich auch westliche Waffen gehen durch Lwiw.

Der Krieg hat die Stadt verändert, doch bei allem Schrecken wirkt Lwiw immer wieder auch lebendig – fast heiter. Auf dem Marktplatz beim Rathaus spielen Strassenmusiker, durch die Gassen der Altstadt flanieren junge Leute, Familien; auch die Terrassen der Cafés sind gut besucht. 

Lwiw hat sich in den vergangenen Jahren zu einer Tourismusmetropole entwickelt. Die Stadt versprüht bis heute den Charme von Österreich-Ungarn, dem untergegangen Grossreich, zu dem sie einst gehört hatte. Kaffeehäuser gibt es hier, barocke Kirchen und feine Torten.

In der «Lebkuchen Werkstatt» ist diese süsse Leichtigkeit immer noch spürbar. Viele Lichter, bunte Regale und ein mit Zuckerguss verziertes Knusperhäuschen prägen das Geschäft an der Lwiwer Hauptgasse. 

«Wir haben hier Lebkuchen mit Honig, mit Ingwer, das ist unser Klassiker, aber auch mit Schokolode», erzählt Anja. Die junge Frau wallt in der offenen Backstube gerade einen Teig aus. «Mir gefällt mein Job, gerade, wenn Kinder vorbeikommen, wir zusammen Lebkuchen backen und verzieren. Die Kleinen vergessen dann für eine Stunde alles.»

Doch der Krieg bricht immer wieder auch in diese Idylle ein. Immer wieder heulen die Sirenen in Lwiw – Luftalarm.

Die Front ist zwar weit weg, aber mit regelmässigen Angriffen auch aufs Hinterland will Russland ukrainische Nachschublinien stören – und Angst verbreiten. 

Lwiw hat eine lange Geschichte des Widerstands gegen Moskau. Im Zweiten Weltkrieg kämpften ukrainische Nationalisten – zum Teil im Verbund mit der deutschen Wehrmacht – gegen die Rote Armee. Es gibt – oder besser gesagt: gab – aber auch enge Verbindungen zu Russland.  

Ich habe Kontakt mit Kollegen aus Russland. Aber viele verstehe ich nicht mehr. Sie sind der Meinung, die Ukraine sei zu selbständig geworden. Sie sagen: ‹Wir sind eure grossen Brüder›. Und ich sage ihnen: ‹Nein, das ist vorbei. Diese Bruderschaft gibt es nicht mehr.
Autor: Andrej Musoryn Ballettmeister in Lwiw

In der berühmten Lwiwer Oper trainiert das Ballett-Ensemble unter seinem Leiter Andrej Musoryn. Der 59-jährige Ballettmeister erzählt, wie er den 24. Februar erlebte, den Tag des Kriegsausbruchs: «Am 24. Februar hätte eigentlich eine Premiere stattfinden sollen: «Scheherazade», ein Ballett des russischen Komponisten Nikolai Rimski-Korsakow. Tags zuvor war noch Generalprobe gewesen. Aber die Premiere fand nicht statt.» 

Das Ende der Bruderschaft

Seither ist die Oper geschlossen. Die Tänzerinnen und Tänzer kommen dennoch fast jeden Tag, um die Form nicht zu verlieren. Musoryn: „Wir haben hier Leute aus den Opern von Charkiw oder Kiew, die vor den Bomben geflohen sind und nun mit uns trainieren.»

Russland, das stets so viel Wert legt auf seine Hochkultur, hat mit seinen Waffen ukrainische Ballerinen zur Flucht gezwungen. Die Beziehung zum Nachbarland hat das völlig zerstört. Ballettmeister Musoryn: «Ich habe Kontakt mit Kollegen aus Russland. Aber viele verstehe ich nicht mehr. Sie sind der Meinung, die Ukraine sei zu selbständig geworden. Sie sagen: ‹Wir sind eure grossen Brüder›. Und ich sage ihnen: ‹Nein, das ist vorbei. Diese Bruderschaft gibt es nicht mehr.›»

 

 

Echo der Zeit, 05.04.2022, 18 Uhr

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