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Krieg in der Ukraine «Man muss sich jetzt auf monatelange Häuserkämpfe einstellen»

Internationale Sanktionen, militärische Strategien, geopolitische Bedeutung – das sind die grossen Linien des Kriegs in der Ukraine. Doch was sind die konkreten Folgen, die der Krieg für die Menschen in der betroffenen Region hat? Der deutsche Schriftsteller Christoph Brumme lebt seit 2016 mit seiner Familie in Poltawa, einer Stadt im Osten der Ukraine.

Christoph Brumme

Schriftsteller

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Der deutsche Schriftsteller Christoph Brumme lebt seit 2016 mit seiner Familie in Poltawa, einer Stadt im Osten der Ukraine, zwischen Kharkiv und Kiew, mit etwa 300'000 Einwohnerinnen und Einwohnern. Wie sie die Ereignisse erlebt haben, hat er in einem Tagebuch in der «NZZ am Sonntag» beschrieben.

SRF News: Wie geht es Ihnen angesichts des russischen Einmarsches?

Christoph Brumme: Es ist schockierend, die Situation hat sich von einem Tag auf den anderen geändert. Die Strassen sind leer. Ich war heute im Zentrum der Stadt. Es sind kaum Menschen auf der Strasse. Alle Restaurants sind geschlossen, nahezu alle Geschäfte, ausser Lebensmittelläden und Apotheken und Tankstellen. Da bilden sich lange Schlangen. Und natürlich kaufen die Menschen jetzt für wenige Tage Vorräte. Mehr Geld haben die meisten ja nicht. Man merkt, die Menschen sind schockiert, niedergedrückt, schockiert, gelähmt.

Man muss Putin jedes Verbrechen zutrauen. Und das heisst auch einen Grossangriff auf die Ukraine.

Noch vor kurzer Zeit glaubte kaum jemand an einen Krieg, schreiben Sie. Und jetzt ist er Tatsache. Wie geht es den Menschen damit?

Die grosse Mehrheit der Ukrainer konnte sich das nicht vorstellen und konnte es nicht glauben. Das war eine Minderheit von vielleicht zehn Prozent der Leute, die gesagt haben, so wie ich es auch öffentlich immer wieder gesagt habe: Man muss Putin jedes Verbrechen zutrauen. Und das heisst auch einen Grossangriff auf die Ukraine.

Sie sagen, Sie hätten als einer der wenigen in der Ukraine mit einem solchen Einmarsch gerechnet. Trotzdem sind Sie geblieben. Wieso?

Ich kann es nicht mit meinem Gewissen vereinbaren, meine Freunde in der Not zu verlassen. Das geht nicht. Und natürlich hatte ich bis zuletzt auch die Hoffnung, dass er nicht so wahnsinnig sein wird. Als am Montag die Meldung kam, dass er diese sogenannten Volksrepubliken anerkennen will, da habe ich gedacht: Na gut, jetzt wird das ohnehin von Russland okkupierte Land also offiziell okkupiert. Aber die Vorstellung, dass das jetzt passiert, ein Angriff aus mehreren Richtungen, das ist natürlich kaum vorstellbar. Rational denkende Menschen würden fragen: Wozu? Was soll das bringen? Es kann ja nur unendlich viele Opfer bringen.

Mann beim Tanken
Legende: Vor einer Tankstelle in Poltawa, wo der Autor Brumme wohnt, bildete sich eine Schlange. Reuters

Spielen Sie mit dem Gedanken, die Ukraine jetzt doch zu verlassen?

Das möchte ich überhaupt nicht. Und ich wüsste jetzt auch nicht, ob das besser wäre, ob ich damit sicherer wäre. Nach allem, was ich weiss über die militärische Situation, ist es am besten, in Grossstädten zu bleiben, weil man die am besten verteidigen kann, während Schlachten auf freiem Feld kaum zu führen sind, weil die russischen Raketen da schnell die ukrainischen Truppen zerstören können. Aber in Städten ist das schwieriger. Also im Grunde muss man sich jetzt auf wochen- oder monatelange Häuserkämpfe in den grossen Städten einstellen.

Wozu? Es kann ja nur unendlich viele Opfer bringen.

Und ich weiss auch nicht, wie ich fliehen könnte. Ich habe kein Auto, ich könnte mit dem Fahrrad losfahren. Aber ja, meine Frau, mein Kind – wie kann man bei den Temperaturen auf dem Feld schlafen? Oder nach Kiew, wo jetzt Kämpfe stattfinden? Über den Dnepr gibts nur wenige Brücken, da kommt man kaum rüber. Die Strassen sind sicher verstopft, davon gehe ich aus. Und unterwegs ist man ja auch gefährdet. Ich weiss es schlicht nicht.

Und wie geht es für Sie jetzt, in diesem Moment, weiter?

Ich hoffe, das Internet arbeitet, sodass ich schreiben, arbeiten kann. Ich habe Vorräte für zwei, drei Tage und versuche nicht in Panik zu verfallen. Versuche ruhig zu bleiben. Und ja, im Notfall werden wir sterben.

Das Gespräch führte Christina Scheidegger.

Echo der Zeit, 24.02.2022, 18 Uhr ; 

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