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Krieg in der Ukraine «Terrorwaffen» in Charkiw? Russland soll Wohngebiet vermint haben

Über einem Wohngebiet sollen Minen abgeworfen worden sein. Auch in Syrien und Afghanistan kamen sie zum Einsatz.

Die ukrainischen Behörden in Charkiw warnen die Bevölkerung vor Landminen, die auf die nordöstliche Stadt abgeworfen worden seien. Am Montag sperrten die Sicherheitskräfte ein Gebiet im Osten von Charkiw ab, um eine Reihe kleiner, in Wohnstrassen verstreuter Sprengsätze zu beseitigen.

In einem Interview mit dem TV-Sender NTV schildert ein Anwohner, wie über seinem Wohngebiet mitten in der Nacht Minen vom Himmel fielen. «Wir haben die Umgebung abgesucht und eine Menge davon in unserem Hof gefunden.» Minenräumungskommandos suchten die Gegend nach den Minen ab. Gesprengt werden sie mit Schüssen oder Fernzündern.

Wenn man sich anschaut, wie russische Minen in Afghanistan oder auch in Syrien eingesetzt wurden, dann handelt es sich dabei auch um Terrorwaffen.
Autor: Niklas Masuhr Center for Security Studies, ETH Zürich

Der Leiter der ukrainischen Minenräumungseinheit sagte, es handele sich um PTM-1M-Minen aus Plastik, die mit Zeitzündern detonierten und von den sowjetischen Streitkräften in Afghanistan weithin eingesetzt wurden.

Minenräumungseinheit in Charkiw, 11. April
Legende: Streuminen wie die PTM-1M-Minen sind nach dem Ottawa-Abkommen über Antipersonenminen wegen der Gefahr für die Zivilbevölkerung verboten. Dabei handelt es sich um längliche Kassetten, die mit Flüssigsprengstoff gefüllt sind. Im Bild: Minenräumungseinheit in Charkiw, 11. April. Keystone

Der Militärstratege und Politologe Niklas Masuhr vom Center for Security Studies der ETH Zürich kennt die Minen aus russischer Produktion. Sie werden aus Helikoptern oder Flugzeugen abgeworfen oder über Raketenartillerie verteilt.

Besonders gefährlich für die Zivilbevölkerung sind die Minen, weil sie sehr unpräzise sind und weit verstreut über Gebieten landen – und sich dabei etwa auch in Baumkronen verfangen. «In Russland werden sie auch als Anti-Panzerminen betitelt, sie sind aber auch zum Einsatz gegen Menschen geeignet», sagt Masuhr.

Minen als militärische Sperren – und Terrorwaffen

Laut dem ETH-Experten hat Russland solche Minen auch in Syrien, Tschetschenien und in der Ostukraine eingesetzt, in der es seit Jahren zu Kampfhandlungen kommt. Eine militärische Funktion von Minen ist die Sicherung eroberter Gebiete: Sie können diese für den Gegner schwer passierbar machen.

In der südukrainischen Hafenstadt warnt ein Schild am Strand davor, vermintes Gelände zu betreten.
Legende: In der südukrainischen Hafenstadt warnt ein Schild am Strand davor, vermintes Gelände zu betreten. Keystone

«Wenn man sich aber anschaut, wie russische Minen in Afghanistan oder auch in Syrien eingesetzt wurden, dann handelt es sich dabei auch um Terrorwaffen», sagt Masuhr. Russland beharrt weiterhin auf den Einsatz der geächteten Landminen – auch wegen der Angst, die sie in der Zivilbevölkerung verbreiten, wie der ETH-Experte vermutet.

Die «perfide Funktion» von Minen

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Daniel Suda-Lang ist Geschäftsführer von Handicap International. Die Organisation führt selbst Minenräumungsaktionen durch. Er beschreibt die grosse Gefahr, die von Minen für die Zivilbevölkerung ausgeht: «Sie haben eine sehr perfide Funktion, in dem sie gelegt werden, aber nicht sofort explodieren.» Minen haben verschiedene Formen und können von Zivilisten oft nicht als solche erkannt werden. In bewohnten Gebieten können sie überall lauern: Auf Dächern, unter Autos, in der Kanalisation. In Kriegsgebieten kommen sie auch unter bereits zerstörter Infrastruktur zu liegen und gehen bei den Aufräumarbeiten hoch.

Dazu kommt: «Minen können über Jahre und Jahrzehnte aktiv bleiben. Das führt dazu, dass ganze Zonen über lange Zeit unbewohnbar und gefährlich für die Zivilbevölkerung bleiben.» Daneben gibt es heute auch sogenannt «smarte Minen» – sie können etwa unterscheiden, ob sich ein Tier oder ein Mensch nähert, und gehen nur hoch, wenn es sich um einen Menschen handelt. «Sie sind oft so programmiert, dass sie den Intimbereich oder das Gesicht treffen. Oft hat das nicht den Tod, sondern Verstümmelungen zur Folge», erklärt Suda-Lang. «Flüchtende wie aktuell in der Ukraine stehen dann jeweils vor einem grossen Dilemma, weil sie verletzte Personen mit sich haben, die sie nicht zurücklassen wollen und ihre Flucht verlangsamen.»

Die Verlegung von Minen ist relativ einfach und kostengünstig, die Räumung hingegen langwierig, kompliziert und teuer. Masuhr bestätigt: «Es ist extrem schwierig, Minen wieder wegzuräumen. Die Räumung wird zusätzlich erschwert, wenn sie in urbanen Gebieten eingesetzt werden.»

Warnschild vor Minen nahe Sarajewo
Legende: In Bosnien gibt es bis heute Gebiete, die wegen möglicher Minenexplosionsgefahr nicht betreten werden dürfen – dreissig Jahre nach dem Krieg. Keystone/Archiv

Moderne Versionen der russischen Minen haben zudem seismische Sensoren: Sie erkennen eine sich nähernde Person und die Sprengladung geht hoch, ohne dass eine direkte Berührung nötig ist.

Laut der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch hat Russland Minen dieses Typs bereits Ende März in der Region Charkiw eingesetzt . Die von den POM3-Minen weggeschleuderten Splitter mit einer Reichweite von 16 Metern sind speziell darauf ausgerichtet, die Augen, den Hals und den Schritt zu treffen.

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SRF 4 News, 12.04.2022, 17:15 Uhr ; 

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