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Krieg in der Ukraine US-Waffenlieferungen: 48 Stunden bis aufs Schlachtfeld

Zuerst schickten die USA nur leichte Waffen in die Ukraine. Nun kommen Artillerie, Schützenpanzer und sogar Helikopter dazu.

Der Tweet von Pentagon-Sprecher John Kirby tönt stolz: «48 Stunden. Von der Unterschrift des Präsidenten am 13. April bis zur ersten Lieferung am 15. April.» So schnell würden die USA die Ukrainer «mit dem Material ausrüsten, das sie brauchen, um ihr Land zu verteidigen.» Am 13. April, das war Mittwoch vergangene Woche. Da hatte US-Präsident Joe Biden die jüngste US-Waffenlieferung genehmigt.

Für 800 Millionen Dollar liefern die USA nun weitere Javelin-Panzerabwehrraketen, Stinger-Luftabwehrraketen sowie neu 18 Panzerhaubitzen, 200 Schützenpanzer und 11 Mi-17 Helikopter. «Wie die Russen dies interpretieren, müssen Sie Herrn Putin und den Kreml fragen», antwortet ein relaxter John Kirby auf der Pressekonferenz im Pentagon. «Wir fokussieren uns darauf, sicherzustellen, dass wir das tun, was wir zu tun versprochen haben.»

Transport in unscheinbarem Weiss

Und das ist offenbar, nebst leichten, nun auch schwere Waffen an die Ukraine zu liefern. Vor dem US-Luftwaffenstützpunkt Dover in Delaware, keine 200 Kilometer von der Hauptstadt Washington entfernt, trifft Lastwagen um Lastwagen ohne Schriftzug ein.

Geladen haben diese unscheinbaren Transporter ohne jegliche Markierung Waffen und Munition für den ukrainischen Abwehr-Krieg gegen Russland. «Unser Auftrag ist es, flexibel zu sein und die Transporte schnell auszuführen, sodass die Kollegen auf der anderen Seite nicht lange auf das Material warten müssen.» Oberst Bary Flack steht auf der Ladefläche eines in genauso unschuldigem Weiss wie die Lastwagen bemalten Jumbojets. Hinter ihm werden gerade Javelin-Panzerabwehrraketen verladen. Vor zwei Tagen waren diese auf Flacks Luftwaffen-Stützpunkt angeliefert worden, heute Abend sollen sie die USA verlassen.

Unser Auftrag ist es, flexibel zu sein und die Transporte schnell auszuführen, sodass die Kollegen auf der anderen Seite nicht lange auf das Material warten müssen.
Autor: Bary Flack Oberst, US-Armee

Der unscheinbare Jumbojet mit der Aufschrift «We Deliver the World» fliegt dabei nicht zum ersten Mal in Richtung Ukraine. Bilder zeigen ihn noch vor Kriegsbeginn im Februar auf dem Flughafen Boryspil in der Ukraine, wohin er offenbar schon damals Javelins geliefert hatte.

Umdenken in Washington

Gemäss dem amerikanischen Nato-Kommando, welches die Lieferungen koordiniert, fliegen inzwischen täglich zwischen acht und zehn Flugzeuge aus den USA und anderen Nato-Staaten in die ukrainischen Nachbarländer, von wo die Waffenlieferungen an die Ukraine weitergereicht werden. Dabei hat in den USA offenbar ein Umdenken eingesetzt. «Amerika schickt nun auch schwere, eigene Ausrüstung. Das haben die USA zuvor nicht getan.» Mark F. Cancian war einst selbst Oberst bei den US-Marines. Er hat in Irak gedient und in Afghanistan. Später arbeitete er für das Büro des Verteidigungsministers und war Planer des Armeebudgets. Heute analysiert Cancian für das Center for Strategic and International Studies CSIS den Krieg in der Ukraine.

«Die Panzerhaubitzen und Schützenpanzer sind komplexe Waffensysteme. Diese Systeme benötigen Logistik, Wartung und Techniker.» Cancian glaubt, dass sich die USA auf einen länger währenden Krieg einzustellen beginnen: «Zu Beginn wollten wir sofort einsetzbare Waffen schicken. Auch weil wir dachten, dass die Ukrainer vielleicht keine Woche durchhalten könnten.» Cancian macht eine kurze Pause. «Aber nun scheint es, dass dieser Krieg ziemlich lange dauern könnte. Waffen zu liefern, die einige Zeit brauchen, bis die Ukrainer sie einsetzen können, könnte sich deshalb lohnen.»

Steigender Druck, sinkendes Risiko

Weshalb die Regierung Biden dies tut, ist für Cancian ziemlich offensichtlich: «Der ukrainische Präsident Selenski hat grossen Druck ausgeübt. In jeder Rede, die er hielt, forderte er die westlichen Regierungen auf, mehr zu tun, und noch mehr, und noch mehr.» In der Folge dieser Reden, auch vor dem amerikanischen Kongress, wuchs nicht nur aus der amerikanischen Öffentlichkeit der Druck, mehr zu tun, sondern auch bei den dem Präsidenten feindlich gesinnten Republikanern.

Gleichzeitig sei klar geworden, dass die Russen diese Waffenlieferungen kaum würden angreifen können, so Cancian: «Zu Beginn des Krieges gab es noch die Befürchtung, dass die Russen möglicherweise Stützpunkte in Polen angreifen könnten oder die Transportwege dieser Waffenlieferungen. Inzwischen ist jedoch offensichtlich geworden, dass sie alle Hände voll zu tun haben und kaum etwas gegen diese Waffenlieferungen ausrichten können.» Während der Druck, mehr zu tun stieg, scheint das Risiko abgenommen zu haben.

Wettlauf gegen die Zeit

Dabei bleibt es ein Wettlauf gegen die Zeit. Weitere Javelins zu liefern, können sich die USA beispielsweise kaum mehr leisten. Die eigenen Vorräte neigen sich bereits bedrohlich dem Ende zu. «Was noch in den amerikanischen Lagern ist, brauchen wir für unsere eigenen Kriegspläne», so Cancian.

Soldaten mit Waffenlieferung vor einem Flugzeug.
Legende: Nach anfänglichen leichten Waffen schicken die USA nun auch schwere Geschütze in die Ukraine. Reuters

Und trotzdem glaubt der ehemalige US-Marine, dass die Zeit eher auf Seiten der Ukraine ist: «Die Waffenlieferungen werden nicht weniger, sondern eher mehr. Das wird den Ukrainern helfen, ihre Einheiten weiterhin auszurüsten und Widerstand zu leisten, während die russische Armee irgendwann erschöpft sein wird.» Dass der Preis dieses ukrainischen Widerstandes die grausame Zerstörung des eigenen Landes mit vielen zivilen Opfern ist, weiss indes auch Cancian sehr genau.

Tagesschau, 19.04.2022, 12:45 Uhr

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