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Krieg in der Ukraine Wo sind im Ukraine-Krieg die «roten Linien»?

US-Präsident Joe Biden warnte am Montag in einer Rede vor dem russischen Einsatz von Bio- und Chemiewaffen in der Ukraine. Russland behaupte, dass die Ukraine biologische und chemische Waffen habe. Das sei ein klares Zeichen dafür, dass Wladimir Putin den Einsatz beider Waffen in Erwägung ziehe, so Biden. ETH-Sicherheitsexperte Oliver Thränert über «rote Linien» im Ukraine-Krieg.

Oliver Thränert

Sicherheitsexperte ETH Zürich

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Der Spezialist für Sicherheitspolitik leitet den Think Tank am Centre for Security Studies an der ETH Zürich. Von 2001 bis 2012 war Thränert an der deutschen Stiftung für Wissenschaft und Politik tätig.

SRF News: Oliver Thränert, wie schätzen Sie die Aussage des amerikanischen Präsidenten ein?

Oliver Thränert: Joe Biden hält einen russischen Einsatz solcher Waffen in der Ukraine offenbar für möglich. Zwar verzichtet Moskau als Mitglied der Konventionen zum Verbot biologischer und chemischer Waffen eigentlich auf solche Kampfstoffe. Es ist aber bekannt, dass Russland wohl über Chemiekampfstoffe wie «Nowitschok» verfügt, die von russischen Geheimdiensten gegen einen ehemaligen Spion und zur Vergiftung des Putin-Kritikers Nawalny auch eingesetzt wurden.

Russland erbte auch ein riesiges Biowaffenprogramm von der Sowjetunion.

Auch erbte Russland ein riesiges B-Waffenprogramm von der Sowjetunion. Biden will nun darauf hinweisen, dass ein russischer Einsatz von B- oder C-Waffen Konsequenzen nach sich ziehen würde.

Wieso zieht Biden nicht gleich auch eine «rote Linie» und warnt Russland unter der Androhung von Konsequenzen?

Er will unter allen Umständen vermeiden, dass die USA oder die Nato direkt in den Ukraine-Konflikt hineingezogen werden. Biden hat aber auch eine rote Linie klar definiert: Sollten russische Streitkräfte die Grenze zu einem Nato-Mitglied überschreiten, dann würde dies nach Art. 5 des Nato-Vertrags den Bündnisfall auslösen. Jeder Quadratzentimeter Nato-Gebiet würde dann – so Biden – entschlossen verteidigt.

Wieso sind die Staaten so zaghaft im Ziehen von «roten Linien»? Befürchtet man, wie der damalige US-Präsident Barack Obama im Syrien-Krieg, einen Rückzieher machen zu müssen?

Obama wollte seinerzeit den syrischen Machthaber Assad von einem Chemiewaffen-Einsatz abschrecken. Dann bot sich die Gelegenheit zu einer diplomatischen Lösung: Syrien wurde Mitglied der Chemiewaffenverbotskonvention. Daher erschien eine militärische Intervention der USA nicht mehr erforderlich. Leider wissen wir heute: Syrien hat nicht alle seine C-Waffen zerstören lassen. Obama schreckte damals vor einer Militärintervention zurück, da das von der Mehrheit der Amerikaner nicht mehr gutgeheissen wurde. So geht es auch Joe Biden heute. Kommt hinzu, dass Russland eine Atommacht ist, mit dem sich Washington nicht in einen Krieg verwickeln will.

Obamas «rote Linie» im Syrien-Krieg

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2012, im Syrien-Krieg, bezeichnete der damalige US-Präsident Barack Obama den Einsatz chemischer oder biologischer Waffen als «rote Linie». Er drohte dem syrischen Machthaber Baschar al-Assad mit einer militärischen Intervention, sollte diese Toleranzgrenze überschritten werden. Im Jahr darauf starben in Syrien hunderte Menschen durch den Einsatz von Giftgas. Doch es blieb bei der amerikanischen Drohung; die USA intervenierten nicht.

Wie würden USA und Nato reagieren, wenn Putin tatsächlich Bio- oder Chemiewaffen in der Ukraine einsetzt?

Hoffen wir einmal, dass dies nicht passiert. Wenn es passiert, wird der Druck in den westlichen Gesellschaften steigen, Putin in den Arm zu fallen. Ich kann mir aber auch dann eine direkte militärische Unterstützung der Ukraine seitens der USA oder der Nato nur schwer vorstellen.

Was wäre, wenn Russland «taktische» Atomwaffen einsetzen würde? Also Atomwaffen mit weniger Reichweite?

Auch so genannte «taktische» Atomwaffen hätten eine Zerstörungswirkung, die diejenige in Hiroshima und Nagasaki 1945 übersteigen dürfte. Sollte Russland sie wirklich in der Ukraine einsetzen, würde das den Druck auf westliche Regierung massiv erhöhen, noch stärker als im Fall von Chemie- oder Biowaffen.

Ich glaube nicht, dass Putin zu einem solch krassen Mittel greifen wird.

Auch der Widerstand in Russland gegen den Krieg dürfte enorm anwachsen; der Westen dürfte jegliche Wirtschaftszusammenarbeit einstellen; und China könnte es sich nicht mehr leisten, Russland den Rücken freizuhalten. Insofern glaube ich nicht, dass Putin zu einem solch krassen Mittel greifen wird.

Verbotene Massenvernichtungswaffen

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Chemische und biologische Waffen zählen zu den Massenvernichtungswaffen. Während bei biologischen Kampfstoffen etwa natürliche Toxine oder Krankheitserreger als Waffe eingesetzt werden, sind es bei Chemiewaffen toxisch wirkende Substanzen oder Gemische. Zu den chemischen Kampfstoffen gehören etwa Senfgas, Chlor oder Sarin. Letzteres kam laut UNO-Chemiewaffeninspektoren im Syrien-Krieg zum Einsatz. Zu den biologischen Kampfstoffen gehören beispielsweise jene pathogenen Bakterien, die Milzbrand (Anthrax) auslösen.


Chemiewaffen und biologische Waffen widersprechen – genauso wie Atomwaffen – dem humanitären Kriegsvölkerrecht. Im Fall der Chemiewaffen ist das Verbot ausdrücklich in der internationalen Chemiewaffenkonvention festgeschrieben, die 1997 in Kraft trat. Für biologische Waffen gibt es die internationale Übereinkunft zum Verbot biologischer Waffen von 1975.


Tagesschau, 22.3.2022, 12:45 Uhr ; 

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