Die Juristin und Friedensnobelpreisträgerin Oleksandra Matwijtschuk sammelt Beweise für die Kriegsverbrechen der russischen Invasoren in der Ukraine. Sie fordert ein internationales Sondergericht für die Verantwortlichen der Gräueltaten.
SRF News: Wie gehen Sie und ihre Mitstreiterinnen vor bei der Dokumentation von russischen Kriegsverbrechen?
Oleksandra Matwijtschuk: Seit Februar 2022 arbeiten wir mit vielen Organisationen zusammen. Wir suchen nicht nur nach offen zugänglichen Daten, die wir verifizieren, wir senden auch Gruppen in die besetzten Gebiete – mit entsprechenden Vorsichtsmassnahmen.
Die von uns dokumentierten Kriegsverbrechen sind nur die Spitze des Eisbergs.
Wir sammeln Aussagen von Opfern und Zeugen von Kriegsverbrechen. Wenn etwas passiert, sind unsere Leute schnell vor Ort. Wir machen auch Fotos und Videos. Die von uns dokumentierten Fälle sind nur die Spitze des Eisbergs. Für die Menschen in besetzten Gebieten ist es zudem sehr gefährlich, uns ihre Erlebnisse zu berichten.
Was erwarten Sie von der internationalen Staatengemeinschaft?
Es ist nicht nur ein Krieg zwischen zwei Staaten. Es ist ein Krieg zwischen zwei Systemen, zwischen Autoritarismus und Demokratie. Putin versucht, die ganze Welt zu überzeugen, dass Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Menschenrechte falsche Werte seien.
Wir müssen für Gerechtigkeit sorgen.
Wir können das so nicht stehen lassen. Um die Wertediskussion zu gewinnen, um diesen Krieg zu gewinnen, müssen wir für Gerechtigkeit sorgen.
Sie fordern ein internationales Gericht, das Wladimir Putin und weitere Kriegsverbrecher zur Verantwortung ziehen soll. Wo sehen Sie dabei die grösste Herausforderung?
Die Welt lebt noch immer in einer Zeit der Nürnberger Prozesse, wo Nazi-Verbrecher verurteilt wurden, nachdem ihr Regime kollabiert war.
Doch Gerechtigkeit kann nicht warten! Diese Leute müssen verurteilt werden, sie müssen vor Gericht gestellt werden, unabhängig davon, ob der Krieg vorbei ist oder noch läuft. Diese mentale Barriere ist derzeit das grösste Problem. Wir müssen jetzt ein internationales Gericht etablieren, wir können nicht warten.
Was versprechen Sie sich von einer Verurteilung der Verantwortlichen für die Opfer und die Angehörigen?
Wir dokumentieren nicht nur Verletzungen der Genfer Konventionen. Wir dokumentieren menschliches Leid. Russische Truppen bombardieren gezielt Wohngebäude, Schulen, Kirchen, Spitäler, Fluchtkorridore. Sie morden, vergewaltigen, entführen, foltern. Wie können wir Gerechtigkeit für all die Opfer dieses Kriegs schaffen? Der Krieg macht die Menschen zu Nummern, die Justiz soll ihnen ihre Namen und ihre Würde zurückgeben.
Ihre Organisation hat Ende Jahr den Friedensnobelpreis erhalten. Hat das Ihre Arbeit beeinflusst, Ihnen gar geholfen?
Während Jahrzehnten wurden Verteidiger der Menschenrechte aus unserer Region nicht gehört. Ich erinnere Sie daran, dass Russland seine eigene Zivilbevölkerung während Jahren unterdrückt und in Staaten wie Georgien, Moldawien, Mali, Syrien und Libyen Menschenrechtsverbrechen verübt hat.
Demokratien verschlossen die Augen vor den russischen Menschenrechtsverbrechen – das führte dazu, dass Russland jetzt eine Gefahr für die ganze Welt ist.
Staaten aber, die sich selbst entwickelte Demokratien nennen, schlossen die Augen vor diesen Taten und gaben Putin weiterhin die Hand. Sie gingen ihren Geschäften nach, bauten Nordstream II, unterstützten Russland finanziell. Das führte dazu, dass Russland nicht mehr nur eine Gefahr für die eigene Bevölkerung ist, sondern für die ganze Welt. Daraus müssen wir lernen. Als wir den Friedensnobelpreis erhielten, erhielten diejenigen eine Stimme, die sich für die Menschenrechte einsetzen.
Das Gespräch führte Martin Aldrovandi.