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Gerechtigkeit erfordert Geduld Ein Tribunal für die russischen Kriegsverbrechen – aber wie?

In der Ukraine finden Gräuel statt, die nach einem Kriegsverbrechertribunal rufen. Aber Gerechtigkeit erfordert Geduld.

Nie hätte Ben Ferencz gedacht, dass er noch einmal Krieg in Europa sehen würde. Ben Ferencz ist 102 Jahre alt, er ist der letzte noch lebende Ankläger der Nürnberger Prozesse. Er hat dort nach dem 2. Weltkrieg die Verantwortlichen des Naziregimes zu ihren Richtern geführt. Swissinfo-Journalistin Elena Servettaz konnte Ben Ferencz fragen, wie er den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine sieht.

Wer einen illegalen Krieg startet, aus Grössenwahn oder wozu auch immer, der hat es verdient, wie ein Krimineller behandelt zu werden.
Autor: Ben Ferencz Letzter noch lebender Ankläger der Nürnberger Prozesse

«Es ist schwierig zu sagen, wer ein Verbrecher ist», antwortete der betagte Mann, «aber ein anderes Land zu überfallen, das ist gewiss ein Kriegsverbrechen.» Gehört Wladimir Putin dafür vor Gericht? «Wer einen illegalen Krieg startet, aus Grössenwahn oder wozu auch immer, der hat es verdient, wie ein Krimineller behandelt zu werden», sagte Ferencz.

Ben Ferencz im Porträt.
Legende: Er ist der letzte noch lebende Ankläger der Nürnberger Prozesse gegen die Nazi-Gräuel: Ben Ferencz. «Es ist schwierig zu sagen, wer ein Verbrecher ist.» imago images/Everett Collection

Die Brutalität des Kriegs gegen die Ukraine ist schwer zu ertragen. Darf sowas ungesühnt bleiben? Kann man die Täter überhaupt fassen? Und kann es je Frieden geben, wenn nicht dazu auch Gerechtigkeit erfolgt? Servettaz hat diese Fragen weltweit führenden Köpfen der internationalen Justiz gestellt.

Er ist ein Kriegsverbrecher, ja, sicher.
Autor: Carla Del Ponte Ex-UNO-Chefanklägerin des Strafgerichtshofes für Ex-Jugoslawien

Unter ihnen ist die ehemalige Schweizer Bundesanwältin Carla Del Ponte, sie hat als UNO-Chefanklägerin die Kriegsverbrechen in Jugoslawien und Ruanda zur Anklage gebracht. Sie bestätigt, was Ferencz sagt. Putins grösstes Verbrechen sei die Invasion an und für sich. «Er ist ein Kriegsverbrecher, ja, sicher», sagt Del Ponte. Sie sieht aber grosse Herausforderungen, den russischen Präsidenten vor Gericht zu bringen. Denn ein UNO-Sondertribunal wird wegen Russlands Vetorecht im UNO-Sicherheitsrat kaum je möglich werden.

Video
Archiv: UNO-Menschenrechtsrat zu den Kriegsverbrechen
Aus 10 vor 10 vom 02.12.2022.
abspielen. Laufzeit 2 Minuten 41 Sekunden.

Auf eine weitere Herausforderung verweist Beth Van Schaack. Sie ist die leitende Botschafterin für internationale Justiz der USA und sagt: «Die Architekten dieser Gräuelkampagne befinden sich in Russland.» Zu fassen seien sie erst, wenn sie das Land verlassen.

Bundesanwaltschaft unterhält eine Task-Force

Das wird Zeit brauchen. Und dies ist die Erkenntnis, die aus den swissinfo.ch-Interviews mit all den Rechtsspezialisten erwächst: Gerechtigkeit erfordert Geduld. Denn der Kern jeder Anklage sind Beweise. Der Genfer Anwalt Philippe Currat sagt es so: «Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und Völkermord sind äusserst komplexe Straftaten. Sie sind das Ergebnis einer grossen Zahl von Handlungen, die von einer grossen Zahl von Menschen begangen wurden.»

Die Schweiz sammelt seit Juni 2022 Zeugenberichte bei vertriebenen Personen aus der Ukraine, um für allfällige Strafverfahren oder Rechtshilfeersuchen vorbereitet zu sein. Die Schweizer Bundesanwaltschaft unterhält auch eine Task-Force zur Ukraine und zu Russland mit Fokus auf das Völkerstrafrecht.

Untätigkeit könnte Putin zum Einmarsch ermutigt haben

«Natürlich kommt die Zeit für das Gesetz, aber wann und vor welchem ​​Gericht?», fragt François Zimeray, der als Anwalt beim Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag diverse Kriegsverbrechen aufgearbeitet hat. Auch er sieht momentan kaum Chancen, die Verbrechen auf internationaler Ebene zur Anklage zu bringen. Die Ukraine hingegen sei dafür legitimiert und prädestiniert.

Serie: Experten zu Kriegsverbrechertribunal gegen Russland

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Illustration
Legende: SWI

SWI swissinfo.ch hat in einer Interviewreihe verschiedene Experten zur möglichen Einrichtung eines Kriegsverbrechertribunals in Den Haag gegen Russland befragt. SWI gaben Auskunft: die ehemalige UNO-Chefanklägerin des Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien Carla Del Ponte, die US-Botschafterin für globale Strafjustiz Beth Van Schaack, der ehemalige französische Botschafter in Kopenhagen und Rechtsanwalt François Zimeray und der Genfer Anwalt und Autor Philippe Currat.

Irwin Cotler, früher Anwalt von Nelson Mandela, dann Bundesanwalt von Kanada, arbeitet derzeit mit einem Netzwerk der UNO an der Errichtung eines Sondertribunals für die Ukraine. Er hofft, dass die Schweiz dabei eine Rolle spielen wird. «Die internationale Gemeinschaft griff nicht ein, als Russland Tschetschenien überfiel, in Georgien einmarschierte, die Krim annektierte und Syrien bombardierte», sagt Cotler. Das könnte Putin zum Einmarsch in die Ukraine ermutigt haben.

Justizminister-Treffen in London

Cotler ist der Einzige der befragten Fachleute, der in der russischen Aggression einen möglichen Völkermord sieht, unter anderem «wegen der direkten und öffentlichen Aufforderung zum Völkermord».

Auf Anfang März lädt das britische Justizministerium zu einer Konferenz, um die Aufklärung russischer Kriegsverbrechen voranzutreiben. Justizministerinnen und Justizminister aus aller Welt sollen sich in London treffen, um finanzielle und praktische Unterstützung für die Arbeit des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag zu organisieren. Noch ist offen, ob die Schweiz dabei ist. «Bis jetzt ist bei der Schweiz keine Einladung zu dieser Konferenz eingegangen», sagt Joël Weibel, Sprecher des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements.

Echo der Zeit, 15.1.23, 18:00 Uhr

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