Russland hat ein unruhiges Jahr erlebt: Tausende Bürgerinnen und Bürger demonstrierten in Moskau für freie Wahlen – und der Staat schlug zurück. Es kam zu Festnahmen und Hausdurchsuchungen, zahlreiche Aktivisten wurden zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt. Der Politologe Sergej Medwedew glaubt, dass sich diese jüngste Repressionswelle in eine grössere Entwicklung einreiht. Der «Leviathan» sei zurück.
Das Seeungeheuer als Metapher
Der «Leviathan» – ein Seeungeheuer aus der Mythologie – steht als Metapher für den absolutistischen Staat. Die Metapher geht zurück auf den englischen Philosophen Thomas Hobbes, der den Staat im 17. Jahrhundert als «Leviathan» bezeichnet hat. Ein Ungeheuer, dem der einzelne Mensch nichts entgegenzusetzen hat.
Jetzt, über 350 Jahre später, treibt dieser «Leviathan» in Russland sein Unwesen. Das die These von Sergej Medwedew. Er ist Professor und Publizist und einer der kritischsten Gesellschaftsanalytiker Russlands. «Wir haben es diesen Sommer gesehen», meint er, «der Leviathan hat seine Macht auf den Strassen Moskaus gezeigt und auch in den Gerichtssälen ist er zu spüren gewesen. Angeklagte wurden in Rekordzeit verurteilt.»
Der Staat über allem
Der russische Staat habe zu seiner traditionellen Rolle zurückgefunden, wie er sie bis vor dem Ende der Sowjetunion ausgeübt hatte. «Es beginnt schon damit, wie in Russland die eigene Geschichte gesehen wird», meint Medwedew. Es sei stets die Geschichte des Staates und nicht etwa jene der Menschen oder des Territoriums.
Der Staat also steht im Mittelpunkt des russischen Denkens. Und dieser Staat hat eine wechselvolle Geschichte hinter sich. Er kollabierte 1917, als die Kommunisten die Macht übernahmen; er kollabierte 1991, als die Sowjetunion zerbrach. «Viele Historiker haben erkannt, dass die Geschichte des russischen Staates in Zyklen verläuft», sagt Medwedew «Phasen der Schwäche wechseln sich ab mit Phasen der Stärke.»
Der Zar, Stalin und jetzt Putin
Zar Nikolaus der I. oder Sowjetdiktator Stalin waren Herrscher, unter denen der Staat erstarkte. In den 90er-Jahren befand sich Russland in einer Übergangsphase. Es gab Freiheit, aber auch Chaos. Viele Russinnen und Russen sehnten sich nach einer ordnenden Hand, einem Leviathan – der zwar Unterwerfung fordert, aber eine gewisse Sicherheit garantiert. Präsident Putin hat geliefert. Russland ist heute viel stabiler als vor 20 Jahren, aber es ist eine bleierne Ordnung ohne Freiheit.
Medwedew zählt auf: «Putin ist Alleinherrscher, die anderen Institutionen wie das Parlament und die restliche Regierung sind reine Dekoration. Dann kontrolliert der Staat einen Grossteil der Wirtschaft, selbst formal private Firmen stehen unter dem Einfluss von Beamten. Zuletzt ist die unabhängige Zivilgesellschaft weitgehend eliminiert worden.»
Düstere Analyse mit spöttischem Unterton
Wenn es doch Proteste gibt, dann greife der Leviathan zum Gummiknüppel. Die Repression funktioniere, sagt Medwedew. «Die Leute haben Angst. Unter diesen Umständen wird es in Russland nicht zu grossen Protesten kommen.»
Medwedews Analyse ist düster. Sein Buch allerdings liest sich stellenweise auch heiter. Der Professor beschreibt mit beissendem Spott einen hohen Regierungsbeamten, der von Militärbasen auf dem Mond träumt – und ein Russland, das in der irdischen Welt nicht einmal in der Lage ist, seine Strassen einigermassen im Schuss zu halten. Es ist die Charakterstudie eines Leviathans, der an Grössenwahn und Realitätsverlust leidet – gleichzeitig aber seine Macht abgesichert hat.