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Lage in Gaza Unicef-Mediensprecher: «Es ist schlimmer, als ich erwartet habe»

Von der Verwüstung im Gazastreifen sind Kinder und Jugendliche besonders betroffen. Das UNO-Kinderhilfswerk Unicef nutzt die aktuelle Feuerpause, um der Bevölkerung dringend benötigte Hilfe zukommen zu lassen. Ein Mediensprecher der Organisation konnte sich in den vergangenen Tagen vor Ort ein Bild der Lage machen.

James Elder

Mediensprecher Unicef

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Der Australier arbeitet seit 2002 für das Kinderhilfswerk der UNO. In seiner Rolle war er bereits in verschiedenen Konfliktgebieten, darunter am Horn von Afrika, in der Ukraine und in Sri Lanka.

SRF News: Wie ist die Situation vor Ort?

James Elder: Sie ist verheerend, Zerstörung ist überall. Wir sehen Kinder mit schrecklichen Verletzungen, die zum Teil auf Parkplätzen oder in Gärten behandelt werden müssen. Hunderttausende sind vertrieben worden.

Was hat Sie am meisten überrascht in den vergangenen Tagen?

Ich habe das Schlimmste erwartet, aber es war schlimmer, als ich es mir vorgestellt hatte. Die schiere Anzahl von Kindern mit schrecklichen Wunden, die in den Spitälern sind. Das Gesundheitspersonal, das rund um die Uhr arbeitet und dabei entscheiden muss, wer operiert werden soll und wer nicht.

Viele Menschen finden in Schulen Zuflucht – was bedeutet dies für die Schulbildung der Kinder?

Es gibt im Moment keinen Unterricht – ganz simpel. Auf dem Stundenplan steht momentan gewissermassen der Krieg. Und irgendwann werden wir versuchen zu verstehen, wieso der Rest der Welt nicht in erster Linie mit Empathie reagiert hat.

Wie gestaltet sich die medizinische Lage vor Ort?

Überall sieht man schreckliche Dinge. Jüngst benötigte ein Bus aus dem Al-Schifa-Spital im Norden des Gazastreifens drei oder vier Tage, um in den Süden des Gazastreifens zu gelangen. Als der Bus endlich hier ankam, bin ich eingestiegen.

Wir brauchen dringend eine längere Feuerpause, um den Menschen im Gazastreifen lebensrettende humanitäre Hilfe zukommen zu lassen.

Als Erstes ist mir Verwesungsgeruch entgegengekommen – von Kindern, die Gliedmassen verloren haben, als eine Mörsergranate ihr Haus getroffen hat. Schlägt eine Rakete in einem Wohnhaus ein, trägt man nicht nur eine oder zwei Verletzungen davon. Diese Kinder haben schreckliche Verbrennungen, Splitterteile in ihren Körpern, häufig auch Augenverletzungen, gebrochene Knochen, zerquetschte Gliedmassen.

Ein Mädchen und ein Junge blicken aus dem Fenster eines Zeltes; im Hintergrund schaufelt ein Mann Dreck weg
Legende: Gemäss James Elder vom UNO-Kinderhilfswerk macht der einsetzende Regen den Menschen, die in den Süden des Gazastreifens geflüchtet sind, besonders zu schaffen. (Bild: Palästinensische Kinder in einem Camp in Chan Yunis, (19.11.23) REUTERS/Mohammed Salem

Ich habe schon so viele schreckliche Schicksale gesehen. Aber wenn ich eines herauspicken müsste, dann ist es der Fall eines zehnjährigen Jungen. Er fiel mir wegen seiner blauen Augen und seines stechenden Blicks auf. Ich sprach den behandelnden Arzt darauf an. Er sagte: «Ich denke, der Junge hat sein Augenlicht verloren.» Der Onkel des Jungen, der daneben stand, flüsterte mir ins Ohr: «Ich will nicht, dass er das schon hört. Aber sein Vater und Bruder sind tot.»

Sie waren jüngst in Gaza-Stadt. Was haben Sie dort gesehen?

Gaza-Stadt ist zerstört. Die Menschen sind verzweifelt. Als unsere Schwesterorganisation UNRWA, das UNO-Palästinenserhilfswerk, Wasser dorthin brachte, tranken es die Menschen teils sofort vor Ort, weil sie so durstig waren. Wir brauchen diese Feuerpause. Und sie muss andauern. Die Bombardierung unschuldiger Zivilisten darf nicht weitergehen. Wir brauchen dringend eine längere Feuerpause, um den Menschen im Gazastreifen lebensrettende humanitäre Hilfe zukommen zu lassen.

Was benötigen die Menschen am meisten?

Lebensmittel und Wasser. Aber damit es Wasser gibt, braucht es auch Treibstoff, um Wasser aufzubereiten und zu entsalzen. Dank der Feuerpause konnten wir diese Arbeit wieder aufnehmen.

Die Feuerpause muss anhalten. Und daraus wird irgendwann hoffentlich ein dauerhafter Waffenstillstand.

Und die Menschen wünschen sich noch etwas anderes: das Ende des Krieges. Es sind schon Menschen auf mich zugekommen und haben mich in perfektem Englisch gefragt: «Sie sind hier, um den Krieg zu beenden, nicht wahr?». Was soll man darauf antworten? «Nein, über dein Leben wird an anderer Stelle entschieden. Wir sind nur hier, um die Blutung zu stoppen.» Das ist zwar nicht akzeptabel, aber wenigstens ehrlich.

Der Chef des UNO-Palästinenserhilfswerks UNRWA erklärte jüngst, dass es keinen sicheren Ort im Gazastreifen mehr gebe.

Ich kann nicht verstehen, wie man denken kann, dass die Zerstörung des Gazastreifens und der Tod von Kindern Frieden bringen kann. Es erscheint mir unsinnig – von einem humanitären Standpunkt gar gefühllos und kalt –, zu glauben, die Bombardierungen müssten wieder beginnen. Die Menschen können sich nirgendwo in Sicherheit bringen. Dutzende von UNRWA-Einrichtungen sind getroffen worden: Schulen, Spitäler, Kliniken, Ambulanzen.

Die Feuerpause muss anhalten. Und daraus wird irgendwann hoffentlich ein dauerhafter Waffenstillstand. Das Wohl der Kinder muss im Zentrum stehen – hier, in Israel, und in der ganzen Region.

Das Gespräch führten Anita Bünter und Jonas Bischoff.

Tagesschau, 28.11.23, 19:30 Uhr ; 

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