Russland und die Türkei haben am Donnerstag Fakten geschaffen und für die syrische Region Idlib eine Waffenruhe vereinbart. Die EU-Aussenminister begrüssten am Sondertreffen in Zagreb den Schritt und sprachen von einem «guten Willen». Für die Million Vertriebenen in Idlib gehe der Albtraum weiter, berichtet Nahost-Korrespondentin Susanne Brunner.
SRF News: Wie wichtig ist die Waffenruhe für die rund drei Millionen Menschen in der Region Idlib?
Susanne Brunner: Absolut überlebenswichtig. Ein Beispiel, das Hilfswerksleute in Idlib und Flüchtlinge immer wieder erzählen: Bei schönem Wetter wird bombardiert, bei schlechtem Wetter versinkt man im Schlamm. Zelte für Bedürftige sind dann nass und dreckig, bevor sie überhaupt stehen. Auch wenn einmal gerade keine Bomben fallen – es macht das Leben in der Misere noch schlimmer. Ein paar Tage schönes Wetter machen also den Unterschied zwischen Misere und totaler Misere.
Die Waffenruhe soll Hilfsgüter ins umkämpfte Gebiet ermöglichen. Wie kommen die Güter überhaupt in die Region?
Im Moment mehrheitlich über die türkische Grenze. Bis im Dezember 2019 gab es insgesamt vier Grenzübergänge für solche Gütertransporte in den Nordwesten Syriens. Und zwar via Irak, Jordanien und die Türkei. Russland und China blockierten dann aber im UNO-Sicherheitsrat die Resolution für eine Verlängerung der Regelung. Es sah so aus, als ob überhaupt keine Hilfsgüter mehr nach Idlib gelangen. Der UNO-Sicherheitsrat kam aber zu einem Kompromiss, doch im Januar wurde ein irakischer Übergang gesperrt, womit vor allem die Türkei für Hilfsgüter und übrigens auch für Geldüberweisungen übrigblieb.
Wie arbeiten die Hilfswerke vor Ort?
Die Hilfswerke arbeiten fast ausschliesslich mit lokalen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Die UNO hat offiziell keine eigenen Leute in Idlib. Ihre Arbeit machen rund 15'000 Syrer vor Ort. Das Problem: Diese Menschen und ihre Familien sind direkt vom Krieg betroffen. Sie kommen um, müssen ihre Familien in Sicherheit bringen, bevor sie anderen überhaupt helfen können.
Das Haus des Hilfswerkleiters Ahmed etwa, der SRF regelmässig über die Zivilbevölkerung berichtet, wurde in Idlib von einer Rakete getroffen. Er überlebte zwar, musste aber wieder Zuflucht suchen. Bei diesem psychischen Stress hilft ihm niemand. Zudem besteht bei lokalen Mitarbeitern ein Risiko, dass einige für Terrororganisationen, Rebellen oder Syriens Präsident Assad arbeiten.
Wie viel Hilfe gelangt unter diesen schwierigen Umständen letztlich zu den Bedürftigen?
Es gibt tatsächlich eine gute Nachricht der UNO, dass über die türkische Grenze im letzten Monat mehr Güter nach Idlib gelangten, als in den letzten fünf Jahren. Die schlechte Nachricht: Es reicht bei weitem nicht für alle. Hilfswerke sprechen von zehn bis 20 Prozent der Bedürfnisse, die sie abdecken können.
Wird die Waffenruhe bislang eingehalten?
Ich habe eine Nachricht von Ahmed aus Idlib erhalten, wonach die Waffenruhe derzeit halte und es weder Artilleriefeuer noch Kampfjets gebe. Trotzdem schreibt er von einem anhaltenden Albtraum: Seit Anfang Jahr eine Million Vertriebene in Idlib, die nun genau zwischen den Fronten sitzen, alles verloren haben und nicht wissen, ob sie je wieder nach Hause können. Die Waffenruhe lässt neue grosse Zukunftsängste aufkommen.
Das Gespräch führte Ivana Pribakovic.