Moskau hat neben Donezk, Luhansk und Cherson auch das Gebiet Saporischja im Süden der Ukraine annektiert – obschon es die russische Armee zu weiten Teilen gar nicht erobert hat, darunter auch die Stadt Saporischja. Dort sei die Lage zwar angespannt und die Stadt werde fast jeden Tag beschossen, sagt der Reporter Moritz Gathmann. Doch die Menschen wollten trotzdem möglichst normal weiterleben.
SRF News: Am Freitag gab es einen Artillerieangriff der Russen auf Zivilisten in Saporischja, mindestens 30 Menschen kamen laut ukrainischen Angaben ums Leben. Wie reagieren die Menschen darauf?
Moritz Gathmann: Als ich hier ankam, machte die Stadt einen relativ normalen Eindruck, die Restaurants sind geöffnet, Menschen unterwegs. Entsprechend hat der Angriff vom Freitag die Menschen hier stark getroffen – obwohl sie sich in den letzten zwei Wochen schon etwas an die ständigen Angriffe der Russen mit S300-Raketen gewöhnt hatten. Diesmal traf die Bombe einen Autokonvoi aus Zivilisten, der die Stadt verlassen wollte, und nicht Infrastruktur wie Industrieanlagen oder kriegswichtige Ziele.
Der Konvoi wollte ins von den Russen besetzte Gebiet fahren. Was wollten die Menschen dort?
Es gibt viele Menschen, die hierher geflohen sind, deren Häuser oder Verwandte sich aber im besetzten Gebiet befinden. Manche wollen Leute ins ukrainische Gebiet holen, andere wollen den dort Gebliebenen Medikamente oder andere Güter bringen. Denn in den von den Russen besetzten Gebieten ist die humanitäre Lage deutlich kritischer als hier im ukrainisch kontrollierten Gebiet.
Was bedeutet der jüngste Angriff für diesen «Grenzverkehr»?
Von ukrainischer Seite her ist der Verkehr vorerst eingestellt worden. Aus den besetzten Gebieten kommen aber weiterhin Fahrzeuge mit geflüchteten Menschen in Saporischja an.
Wie ist Putins Annexionserklärung vom Freitag in Saporischja aufgenommen worden?
Die Menschen hier haben keinerlei Drang, ein Teil Russlands zu werden. Tatsache ist: Die Stadt Saporischja sowie rund ein Drittel der Region sind nicht von den Russen besetzt. Jetzt erwarten die Menschen hier eine gewisse Eskalation.
Jede Nacht gibt es russische Raketenangriffe auf die Stadt Saporischja.
So könnte laut Gerüchten der grosse Staudamm am Dnjepr nördlich von Saporischja ins Visier des russischen Militärs geraten, was zu grossen Überschwemmungen führen würde. Doch konkret hat sich seit Freitag hier nichts Wesentliches geändert. Nach wie vor gibt es jede Nacht russische Raketenangriffe auf die Stadt.
Im Nordosten des Landes bei Charkiw haben die ukrainischen Truppen Gebiete zurückerobert – wie ist die Lage im Süden und in der Region von Saporischja?
Der Frontverlauf rund 40 Kilometer südlich der Stadt hat sich seit März kaum verändert. Man hört zwar Kampflärm von Artilleriegeschützen, doch es gibt keine Offensivbewegungen. Bewegung gibt es dagegen im Gebiet von Cherson, rund 200 Kilometer westlich. Offenbar haben die Ukrainer dort gewisse Geländegewinne gemacht.
Wie erleben Sie die Stadt Saporischja und die dort lebenden Menschen?
Die Stadt ist überraschend lebendig. Restaurants sind geöffnet, Familien gehen in den Park. Im Hotel, in dem ich wohne, gab es am Wochenende beispielsweise zwei Hochzeiten. Sie waren eigentlich für Mai und Juni geplant, wurden wegen der schwierigen Lage aber verschoben.
Die Menschen wollen nicht zu Hause sitzen und zulassen, dass die Russen ihr Leben zerstören.
Jetzt wollten die Betroffenen trotz der nach wie vor nicht weniger schwierigen Lage heiraten. Die Menschen entscheiden sich, ihr Leben zu leben. Sie wollen nicht zu Hause sitzen und zulassen, dass die Russen ihr Leben zerstören.
Das Gespräch führte Claudia Weber.