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Lebensmittelkrise «Knappheit und gestiegene Preise sind ein grosses Problem»

Der Internationale Währungsfonds und die Weltbank warnten, dass der Krieg in der Ukraine in ärmeren Ländern zu einer «humanitären Katastrophe» führen könnte, besonders in Afrika.

Tatsächlich sind die Länder in Nordafrika, aber auch in afrikanischen Ländern südlich der Sahara, zum Teil stark abhängig von Lebensmittelimporten. Warum ist das so? Ökonom Mathias Binswanger hat sich mit den Folgen des Freihandels in der Landwirtschaft beschäftigt.

Mathias Binswanger

Ökonom

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Mathias Binswanger ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der Fachhochschule Nordwestschweiz in Olten und Privatdozent an der Universität St. Gallen. Er war Gastprofessor in Freiberg in Deutschland, an der Qingdao Technological University in China und an der Banking University in Saigon (Vietnam).

Mathias Binswanger ist Autor von zahlreichen Büchern und Artikeln in Fachzeitschriften und in der Presse. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Makroökonomie, Finanzmarkttheorie, Umweltökonomie sowie in der Erforschung des Zusammenhangs zwischen Glück und Einkommen.

SRF: Wie abhängig sind die Länder Nordafrikas vom Import von Grundnahrungsmitteln? Warum ist der Selbstversorgungsgrad dort nicht höher?

Mathias Binswanger: Das war lange Zeit die Entwicklungsdoktrin: Auf den Export ein paar wenige Rohstoffe wie Kaffee oder Kakao setzen, um den Weltmarkt zu bedienen. Das hatte zur Folge, dass die betroffenen Länder nicht mehr in der Lage waren, die eigene Bevölkerung mit ausreichend Lebensmitteln zu versorgen. Viele Länder, die ursprünglich einmal – etwa in den 1980er-Jahren – Netto-Lebensmittel-Exporteure gewesen waren, sind dadurch immer mehr zu Netto-Lebensmittel-Importeuren geworden. Das heisst, sie importieren mehr, als sie exportieren. Da haben plötzliche Preissteigerungen natürlich eine enorme Auswirkung. Nicht nur die Knappheit ist also das Problem, sondern auch die gestiegenen Preise, die auf dem Weltmarkt zu bezahlen sind.

Welche Rolle spielte die europäische Agrarpolitik, die lange Zeit auf Export ausgerichtet war?

Die spielt eine grosse Rolle. Lange Zeit hat man Preis-Dumping betrieben. Das heisst, man hat die Überschüsse, die produziert wurden, vor allem in Ländern der EU, zu Tiefstpreisen auf den Weltmarkt geworfen. Zu dieser Zeit war es billig, Lebensmittel wie Getreide und Weizen zu importieren. Das hat umso mehr den gewinnbringenden Export-Weg mit den «Cash Crops» (Anmerkung der Redaktion: landwirtschaftliche Kulturen zur Gewinnerzielung wie Kaffee, Tee) gestärkt.

Als die Preise dann aber stiegen und die EU aufgehört hat, diese Überschüsse auf dem Weltmarkt zu verkaufen, hat sich plötzlich gezeigt, dass man viel mehr Geld aufwenden muss für die importierten Lebensmittel, als man mit den exportierten Lebensmitteln einnehmen kann.

Die Landwirtschaft sollte in erster Linie dafür sorgen, die eigene Bevölkerung zu ernähren.

Oft hört man: Wenn wir weniger Fleisch essen, entschärft dies die aktuelle Lebensmittelkrise, denn auf Landwirtschaftsfläche werden Futtermittel angepflanzt. Würde ein Fleischverzicht die Situation verbessern?

Ja, das heisst es immer wieder: Unsere Schweine fressen das Brot der Armen. Das ist aber eine naive Milchbüchlein-Rechnung. Die Schweiz importiert zwar einiges an Futtermittel, es stammt aber vor allem aus Frankreich, Deutschland, zum Teil aus Brasilien, dann Österreich, Italien. Dadurch sind keine direkten Entwicklungsländer betroffen. Man könnte dagegen halten, dass dann aber Frankreich und Deutschland statt Futtermittel Brotgetreide anbauen könnte – aber da diese Länder sich damit praktisch zu 100 Prozent selbst versorgen, würde das wiederum einen Brotgetreide-Export in Entwicklungsländer bedeuten. Dann stehen wir erneut beim Problem, das dafür gesorgt hat, dass die heimische Landwirtschaft in den Entwicklungsländern nicht mehr konkurrenzfähig war.

Wie kann die heimische Landwirtschaft in den Entwicklungsländern gestärkt werden?

Indem wir diesen Ländern nicht mehr eine Entwicklungsdoktrin auferlegen, wie es in der Vergangenheit passiert ist. Die Landwirtschaft sollte in erster Linie dafür sorgen, die eigene Bevölkerung zu ernähren. Sie sollte lokal ausgerichtet sein, aus dem Aspekt der Ernährungssicherheit und der Nachhaltigkeit.

Das Gespräch führte Simone Hulliger.

IWF und Weltbank-Tagung: «Teuerung in den Griff bekommen»

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Was lässt sich tun gegen die Inflation und den wirtschaftlichen Schock, den der Krieg in der Ukraine ausgelöst hat? Finanzministerinnen und Zentralbankchefs aus fast der ganzen Welt haben eine Woche lang darüber debattiert – auf Einladung von IWF und Weltbank. Die Chefin es Währungsfonds IWF, Kristalina Georgieva, nennt es eine doppelte Krise. «Der Krieg ist zu den Schwierigkeiten aus der Pandemie noch hinzugekommen.» Vor allem die Preise für Energie und Nahrungsmittel seien deshalb rasant gestiegen. Und diese beschleunigte Inflation mache den Regierungen rund um den Globus nun am meisten Sorgen.

Die in Washington versammelten Expertinnen, Regierungsvertreter und Notenbank-Verantwortlichen waren sich einig: Priorität habe es nun, die Teuerung in den Griff zu bekommen. Durch eine Erhöhung der Zinsen soll die Inflation genug sinken, ohne die Wirtschaft in eine Krise zu stürzen. Eine schwierige Aufgabe, wie am Treffen von IWF und Weltbank klar wurde.

Echo der Zeit, 23.4.22; 18 Uhr ; 

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