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Marode Infrastruktur Raus mit dem Blei – der Kampf um sauberes Trinkwasser in den USA

Die Wasserinfrastruktur der USA ist in schlechtem Zustand. Millionen Bleileitungen liegen noch im Boden – mit teils gravierenden Folgen.

Pizza gibt es oft bei Bryce und Shakima Thomas, denn zum Zubereiten braucht es kein Wasser. Bryce ist sechs Jahre alt. Vor zwei Jahren erfuhr seine Mutter, dass ihr Leitungswasser mit Blei belastet war. Da hatten sie es bereits lange zu sich genommen. «Er war dem Blei ausgesetzt. Ich war ausser mir. Ich dachte, ich habe als Mutter versagt und fürchtete, dass er Hirnschäden hat und nicht gut lernen kann», sagt Shakima Thomas.

Bei ihrem Sohn Bryce wurden erhöhte Bleiwerte im Blut nachgewiesen. Seither beobachtet die Mutter seine Entwicklung mit Sorge. Das Wasser aus dem Hahn benutzt die Sozialarbeiterin nur noch zum Waschen – obwohl sie von der Stadt einen Filter erhalten hat. «Ich brauche das Leitungswasser nie zum Kochen. Ich traue ihm nicht.»

Die beiden wohnen in Newark, einem Vorort von New York. Die Skyline wirkt modern, doch unter dem Boden und in Gebäuden rund um die Grossstadt liegen oft noch alte Wasserleitungen. US-Präsident Joe Biden will in seinem Infrastrukturplan 101 Milliarden Dollar allein für Verbesserungen in der Wasserinfrastruktur ausgeben. Knapp die Hälfte dieses Betrages soll dazu verwendet werden, um bleifreies Trinkwasser zu gewährleisten.

Blei ist für Kinder besonders gefährlich

Blei ist giftig. Es ist für Kleinkinder besonders gefährlich. Das Schwermetall kann das Nervensystem und die Blutbildung beeinträchtigen. Kinder mit erhöhten Bleiwerten im Blut haben eher Konzentrationsschwierigkeiten, eher eine verzögerte Gehirnentwicklung oder teils ein beeinträchtigtes Gehör. Bei Erwachsenen belastet Blei das Herzkreislaufsystem und die Nieren.

In der Schweiz sind Bleileitungen seit über 100 Jahren verboten. In Ländern der EU gibt es teils auch noch Bleileitungen. Die EU hat den zulässigen Grenzwert im Trinkwasser kürzlich weiter gesenkt. In den USA fliesst noch bei bis zu 20 Millionen Menschen Wasser aus Bleileitungen aus dem Hahn. In Newark hatte dies gravierende Folgen.

Einwohner kämpfen für sauberes Wasser

In verschiedenen Teilen von Newark wurden in den letzten Jahren Bleiwerte gemessen, die zu den höchsten in den USA gehören. Angefangen hat die Wasserkrise in den Schulen. In fast der Hälfte der öffentlichen Schulen wurden 2016 erhöhte Bleiwerte gemessen. Der Bürgermeister Ras Baraka versicherte, dies betreffe nur die Schulen: «Das Wasser in Newark ist sicher und trinkbar», sagte er damals.

Doch in den Jahren darauf wurden immer wieder hohe Bleiwerte auch in Privathaushalten gemessen. Die Bleibelastung überstieg die zulässigen Grenzwerte teils um ein Vielfaches. Die Menschen gingen auf die Strasse und forderten sauberes Wasser.

Klage gegen die Stadt Newark

Zwei Organisationen verklagten schliesslich die Stadt. Der Bürgermeister liess Wasserfilter verteilen, die jedoch zum Teil nicht richtig funktionierten. Die Stadt verteilte Wasser in Flaschen. Schliesslich begann Newark damit, die Bleileitungen zu entfernen.

Bis heute verteilen Aktivisten sauberes Wasser, jedes Wochenende. Noch immer kommen Einwohnerinnen und Einwohner vorbei, um gratis ein paar Kanister abzuholen. Sie trauen dem Wasser aus dem Hahnen nicht mehr.

Yvette Jordan kämpft für sauberes Wasser. Ihre Organisation Newark Education Workers' Caucus hat gemeinsam mit der Umweltorganisation NRDC eine Klage gegen die Stadt Newark eingereicht. Die Lehrerin sagt, die Stadt habe das Problem lange heruntergespielt und nicht gut genug kommuniziert.

Ein Drittel der Kinder an meiner Schule braucht zusätzliche Fördermassnahmen.
Autor: Yvette Jordan Lehrerin und Mitglied bei Newark Education Workers' Caucus

«Es gibt keinen sicheren Grenzwert für Blei. Ein Drittel der Kinder an meiner Schule braucht zusätzliche Fördermassnahmen. Wir können nicht sagen, dass diese wegen des Bleis im Wasser nötig sind. Aber ich bin sicher, das hat nicht geholfen.»

Anthony Diaz, Aktivist der Newark Water Coalition, sagt, es herrsche ein grundlegendes Misstrauen gegenüber dem Wasser und den Behörden.

«Ich habe das Wasser bei mir zu Hause getestet und weiss, dass es ok ist. Aber der Gedanke bleibt: was wenn? Es könnte heute gut sein und morgen schlecht.»

Bleileitungen als Zeitbomben

Der Grund für die hohen Bleiwerte: Newark hatte die Chemikalien in der Wasseraufbereitung verändert, worauf Bleileitungen korrodierten und – zunächst unbemerkt – viel mehr Blei freigaben als bisher. Etwas, was bereits in anderen Städten wie Flint und Washington D.C. geschehen war. So kann die Bleibelastung im Wasser aus Bleileitungen über lange Zeit unter dem gesetzlichen Grenzwert liegen und dann massiv ansteigen, weil die Leitungen zerfressen werden. Für Aktivisten ist deshalb klar: Bleileitungen im Boden sind Zeitbomben.

Der Blei-Skandal von Flint

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In der Stadt Flint im US-Bundesstaat Michigan wurden ab 2014 über 100‘000 Menschen stark mit Blei belastetem Leitungswasser ausgesetzt. In der Stadt lagen zahlreiche Bleileitungen. Als die Stadt die Wasseraufbereitung veränderte und das Wasser aus dem Fluss Flint bezog, korrodierten die Leitungen. Grosse Mengen Blei gelangten ins Trinkwasser.

Die Wasserkrise in Flint machte in den ganzen USA Schlagzeilen, Präsident Barack Obama rief den Notstand aus. Die Bewohner von Flint mussten mit insgesamt mehreren 100 Millionen Dollar entschädigt werden. Bis heute wurde ein grosser Teil der Bleileitungen ersetzt.

Doch das Problem geht in den USA über die Bleileitungen in Newark hinaus. Das Netz ist überaltert, Wasserunterbrüche sind häufig, Abwassersysteme ungenügend. In den USA insgesamt halten die Menschen verschmutztes Trinkwasser für das grösste Umweltproblem, und dies über die Parteigräben hinweg. Das zeigen Umfragen . Präsident Biden weiss genau, dass er bei der Sanierung der Wasserinfrastruktur auf Unterstützung in der Bevölkerung zählen kann. Das Wassernetz der USA ist marode und Millionen Bleileitungen liegen noch im Boden.

Vom Skandal zum Vorzeigemodell

Immerhin: Newark hat eine in den USA beispiellose Aktion gestartet. Innert zwei Jahren wurden 18'000 Bleileitungen ersetzt, zu enormen Kosten. Bürgermeister Baraka bestreitet, dass die Stadt nur unter Druck der Klage reagiert habe: «Wir haben bereits vorher reagiert. Wir haben Bleileitungen ausgetauscht, lange bevor eine Klage eingereicht wurde. Sogar die Aktivisten, die uns verklagt haben, sagen jetzt, wir seien ein Vorzeigemodell.»

Shakima Thomas misst immer noch erhöhte Bleiwerte in ihrem Leitungswasser, obwohl ihre Leitung zum Haus nicht mehr aus Blei besteht. Woher es kommt, weiss sie nicht. Für sie ist klar, dass viel versäumt wurde. «Wir sollten unsere Infrastruktur stetig verbessern. Wir sollten dafür sorgen, dass sie nicht gesundheitsgefährdend ist, auch nicht in einigen Jahrzehnten. Wir sollten gar nie Bleileitungen benutzt haben in Amerika. Schliesslich ist die Gefahr von Blei seit dem Römischen Reich bekannt.»

Interview mit dem Wasser-Experten Erik D. Olson

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SRF News: Wie gross ist das Problem der Bleileitungen in den USA?

Erik D. Olson: Wir schätzen, dass in den USA noch sechs bis zehn Millionen Bleileitungen in den Böden liegen und damit bis zu 22 Millionen Menschen betroffen sind. Es betrifft vor allem alte Städte. Nach 1986 wurden Bleileitungen in den USA verboten.

Obwohl noch viele Bleileitungen im Boden sind, ist das Wasser nicht in jedem Fall stark belastet. Muss man sie wirklich ersetzen, oder genügt die richtige Wasseraufbereitung mit Korrosionsschutz?

Die Aufbereitung ist nicht sicher genug. Wir haben das in mehreren Städten gesehen: Es braucht nicht viel, dass das Blei ins Trinkwasser gelangt. Die Stadt Flint war ein Beispiel. Dasselbe ist in Washington D.C. vor zehn Jahren geschehen. Bleileitungen im Boden sind eine Zeitbombe, die jederzeit explodieren kann, wenn es eine Veränderung gibt.

Präsident Joe Biden will nun 45 Milliarden Dollar für die Entfernung von Bleileitungen zur Verfügung stellen.

Das wäre ein riesiger Vorteil für die Gesundheit. Newark bekam Hilfe vom Bezirk und vom Teilstaat New Jersey. Aber viele Gemeinden können das nötige Geld für den teuren Austausch von Bleileitungen nicht aufbringen. Bidens Plan würde das ändern. Wir wissen seit Jahrzehnten, dass wir nicht aus diesen Leitungen trinken sollten. Es ist Zeit, dieses Problem anzugehen.

Dazu kommen noch weitere 56 Milliarden Dollar, die Biden in die Wasserinfrastruktur investieren will. Was sind die grössten Probleme?

Unser Wassernetz wurde um 1900 gebaut, Leitungen lecken und brechen, es gibt 250'000 Wasserunterbrüche im Jahr in den USA. Anders als bei Strassen und Brücken sieht man nicht, wie das Wassernetz zerfällt, denn es liegt unter dem Boden. Wir müssen in Leitungen und auch in die Wasseraufbereitung investieren. Wir nutzen noch Methoden, die in die Zeit des Ersten Weltkriegs zurückgehen.

Erik D. Olson ist Wasser-Experte bei der Umweltorganisation Natural Resources Defense Council (NRDC) und leitet die Abteilung Gesundheit und Nahrungsmittel. NRDC war Mitklägerin gegen die Stadt Newark wegen der Bleibelastung im Trinkwasser.

10vor10, 13.05.2021, 21.50 Uhr

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