Wenn man durch Bosnien fahre und mit den Menschen spreche, stelle man fest, dass die meisten vom Krieg und vom Massaker in Srebrenica nichts mehr wissen wollten, sagt Marie-Janine Calic. Sie ist Professorin für die Geschichte Ost- und Südosteuropas an der Ludwig-Maximilians-Universität in München.
Bosnische Serben verfolgen eigene Agenda
Die Traumata seien tief, viele Menschen seien verbittert oder voller Hass. Serbische Nationalisten würden den von der UNO dekretierten Gedenktag am 11. Juli für ihre Zwecke instrumentalisieren. Ihr Ziel ist, ihre Teilrepublik, die Republika Srpska, von der Republik Bosnien und Herzegowina zu lösen. Bosnien und Herzegowina ist mit dem Friedensabkommen von Dayton 1995 entstanden.
Verantwortung zu übernehmen ist ein wichtiges Signal, damit die Bevölkerung versteht, dass es ernst gemeint ist.
Deshalb: «Es müssen viele Dinge passieren, um die Aufarbeitung in Gang zu setzen – zuerst auf politischer Ebene», sagt Calic. Zwar seien gewisse Anfänge gemacht worden, doch es habe auch Rückschritte gegeben. Einer sei, dass sich die serbische Teilrepublik nicht an Urteile des Gesamtstaats halte und sich aus dessen Institutionen zurückgezogen habe.
Verantwortung für den Völkermord übernehmen
Die politische Klasse müsse Verantwortung übernehmen, sagt Calic. Manche Präsidenten Serbiens hätten das getan, doch derzeit sei eher die Leugnung auf dem Vormarsch. «Verantwortung zu übernehmen ist ein wichtiges Signal, damit die Bevölkerung versteht, dass es ernst gemeint ist», betont die Historikerin.
Mit symbolischen Aktionen wie dem Gedenktag ist nicht viel gewonnen – man muss auf sehr vielen Ebenen ansetzen.
Zentral sei bei der Aufarbeitung des Genozids von Srebrenica auch, dass die Justiz die damaligen Verbrechen aufklärt und ahndet. Hier sei man immerhin schon etwas vorangekommen – bereits wurden 54 Personen wegen ihren Taten in Srebrenica zu teils langen Haftstrafen verurteilt.
Sich der Verantwortung stellen
Und schliesslich müssten sich die Menschen der Vergangenheit stellen, was ja beispielsweise auch in Deutschland nach der Nazidiktatur ein jahrzehntelanger Prozess war und ist. «Durch die Schulen und die Medien muss man ein Bewusstsein dafür schaffen, dass es ein wichtiges Thema ist – aber auch eines, das die Nation nicht auf ewig gefangen hält.»
Die Gesellschaft darf die Verbrechen also nicht vergessen und verdrängen. «Es besteht die Gefahr, dass sich solch traumatische Erlebnisse derart tief ins nationale Bewusstsein eingraben, dass sie sich gar nicht mehr überwinden lassen», betont Calic. Denn so werde es schwierig, in Zukunft überhaupt ein normales Leben zu führen.
Dreissig Jahre nach dem Genozid von Srebrenica gedenkt die UNO jeweils am 11. Juli dieses Massenverbrechens. Doch: «Mit symbolischen Aktionen wie dem Gedenktag ist nicht viel gewonnen», sagt Calic. «Vielmehr muss man auf sehr vielen Ebenen ansetzen.»