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Menschen in Russland Lew Gudkow: «Viele Russen denken nicht mehr mit dem eigenen Kopf»

Der bekannte russische Soziologe Lew Gudkow zeichnet ein düsteres Bild zum Zustand seines Landes. Im Interview mit SRF äussert er sich zu den Folgen der totalen Repression, zur Haltung der Bevölkerung zum Ukraine-Krieg – aber auch zur Zuverlässigkeit seiner Daten.

Lew Gudkow

Russischer Soziologe

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Lew Dmitrijewitsch Gudkow ist ein russischer Soziologe. Ab 2006 bis 2021 war er Direktor des russischen Meinungsforschungsinstituts Lewada-Zentrum und dessen Cheflektor. Seither ist er wissenschaftlicher Leiter des Zentrums.

SRF News: Herr Gudkow, in den letzten Monaten hörten wir in Russland oft den Satz: Die Luft ist so dick hier, man kann sie fast schneiden. Wie fühlen Sie sich?

Lew Gudkow: Es sind schwere Zeiten. Die Resultate unserer Forschung machen einen depressiv und geben einem ein Gefühl der Hoffnungslosigkeit. Der Druck der Machthaber wird immer grösser. Der Eindruck ist, dass jetzt Schufte und Halunken an die Oberfläche kommen und den Ton angeben.

Nach dem Ende der UdSSR sagten Sie noch, Russland werde einst eine Demokratie sein.

Die heutige Spitze des Landes besteht aus Leuten, die aus dem KGB hervorgegangen sind. Unter Putin wurde der Einfluss des KGB wiederhergestellt, und diese Ideologie bringt man in die Gesellschaft: eine antiwestliche, prosowjetische Ideologie eines Grossreiches.

Dazu kommt die totale Unterordnung der Medien. Im ersten Kriegsjahr sind um die 260 Publikationen geschlossen worden; also Verlage, Internetportale oder Zeitungen. Zudem steht das Gerichtssystem unter der völligen Kontrolle der Präsidentenverwaltung. Zusammen mit den manipulierten Wahlen gibt das eine totale Kontrolle des politischen Systems.

Der Eindruck ist, dass jetzt Schufte und Halunken an die Oberfläche kommen und den Ton angeben.

Und dabei haben wir noch nicht einmal vom Schulsystem gesprochen, wo eine Ideologie des staatlichen Patriotismus gefördert wird, also eine totale Loyalität. Die Führung des Landes bezweckt mit all diesen Schritten ihren Machterhalt. Das heutige Regime ist zu einem guten Teil mafiös – damit beschäftigt, sich zu bereichern und an der Macht zu bleiben.             

Aber Ihre Umfragen zeigen doch, dass die Leute mehr oder weniger zufrieden sind?

Relativ zufrieden, ja. Unter den derzeitigen Umständen denken die Leute, dass sie das System eh nicht ändern können – und dass man sich darum besser daran anpasst. Kommt hinzu, dass den Leuten die Vorstellung aufgedrängt wird, dass Russland nicht gegen die Ukraine kämpfe, sondern gegen den Westen, der ja Russland vernichten wolle. Darum wird die Kritik am Staat zur Seite geschoben, und es kommt zu einer Konsolidierung um die Mächtigen.

Wirtschaftlich hat sich Russland durch die Sanktionen nicht in die Knie zwingen lassen?

Nein, die Schreckensszenarien sind nicht eingetroffen. Natürlich spürt die Bevölkerung die Folgen der Sanktionen. Aber es ist ein langsamer Prozess. Die Menschen haben sich angepasst. Sie geben weniger aus. Zudem ist die Präsidialverwaltung sehr aufmerksam darin, lokale Proteste oder Aufstände im Keim zu ersticken. Entweder mit Geld oder mit Repressionen gegen die Organisatoren.

Und was machen die Mitglieder der Machtelite?

Die haben noch mehr Angst als die Oppositionellen. Weil die Repression in den oberen Stufen der Macht noch weiter verbreitet ist. Jedes Jahr gibt es dort eine gewisse Anzahl von Gouverneuren, Chefangestellten oder Vizeministern, die verhaftet werden.            

Dann kann man auch von dort keine Kursänderungen erwarten?

Spaltungen innerhalb der Elite sehe ich nur möglich bei einer schweren Kriegsniederlage mit einer darauf folgenden politischen Krise. In einem solchen Fall würde die Legitimität der Machthaber und insbesondere diejenige Putins hinterfragt.

Hängt also sehr viel vom Ausgang des Kriegs in der Ukraine ab?

Ja, das ist die zentrale Frage. Nach unseren Daten ist die Unzufriedenheit in der mittleren Schicht der Bürokratie bereits jetzt sehr gross. Dies, weil dort die Mittel stark gekürzt werden. Und zwar bei denen, die die realen Probleme der Bevölkerung lösen sollen: das Gesundheitswesen, soziale Aufgaben, öffentliche Bauten oder Strassenbau. Diese Aufgabe müssen sie mit weniger Mitteln meistern und sich dabei loyal gegenüber den Machthabern zeigen, die über ihnen stehen. Diese Leute sehen die Sinnlosigkeit dieses Kriegs und die katastrophalen Folgen. Aber sie schweigen, weil die Repression gross ist.

Oft sagen mir Menschen in Russland: der Krieg solle schnellstmöglich enden – aber mit einem Sieg. Wie könnte so ein Sieg aussehen, der Russland und die Ukraine und mit ihr den Westen zufriedenstellt?

Das scheint unmöglich. Und diesen Widerspruch stellen wir auch in unseren Umfragen fest. Es sind immer noch über 70 Prozent der Befragten, die die sogenannte militärische Spezialoperation in der Ukraine unterstützen. Gleichzeitig wünscht sich rund die Hälfte der Leute die Aufnahme von Friedensverhandlungen.

Es sind immer noch über 70 Prozent der Befragten, die die sogenannte militärische Spezialoperation in der Ukraine unterstützen.

Allerdings sind sie dabei kaum bereit, Kompromisse einzugehen. Faktisch müsste also die Ukraine kapitulieren, den Donbass und die Krim als russisch anerkennen und auf einen Nato-Beitritt verzichten. Die Leute verstehen nicht, dass das unter den jetzigen Umständen nicht realistisch ist.

Es gibt die Kritik, dass im heutigen Russland soziologische Umfragen gar nicht mehr möglich seien. Stimmt das?

Ich höre das immer wieder und es ärgert mich sehr. Wir haben nach wie vor zuverlässige Daten. Wir machen die Umfragen nicht telefonisch, sondern gehen vor Ort bei den Menschen vorbei. Die sogenannte Responder-Rate ist mit 24 Prozent recht hoch. Die Fragebögen sind professionell ausgearbeitet. Viele Menschen machen gerne mit, tun ihre Meinung kund, auch wenn sie gegen die Regierung sind. 

Sie sind also zufrieden mit dem Datenmaterial?

Das Material ist gut. Aber was es aussagt, ist halt furchtbar. Und das ist das, was die russischen Oppositionellen nicht wahrhaben wollen. Sie sagen, unsere Daten stimmen nicht. Dabei wollen sie sich nur nicht mit den Resultaten der Umfragen auseinandersetzen: Nämlich, dass Wladimir Putin heute nach wie vor eine Mehrheit hinter sich hat.

Wir haben nach wie vor zuverlässige Daten. Das Material ist gut. Aber was es aussagt, ist halt furchtbar.

Und da spielt es keine Rolle, ob das nun 77 oder 65 Prozent sind. Es ist die Mehrheit, also eine konsolidierte Meinung. Und die hat eine Art zwangsmässige Kraft. Die Menschen verbinden sich mit dem, wovon sie meinen, dass die Mehrheit es unterstützt. Viele denken nicht mehr mit dem eigenen Kopf, sondern wiederholen das, was ihnen das Fernsehen bietet.

  Das Gespräch führte Christof Franzen.

Tagesschau, 07.04.2023, 19:30 Uhr ; 

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