Die Geflüchteten nennen es den «Dschungel», wie Mujib Basim sagt. Der «Dschungel» beginnt genau dort, wo Rumänien die Fassade eines westlichen Landes hat: beim Einkaufszentrum Timisoara Nord.
Mujib Basim, unser afghanisch-rumänischer Führer, läuft über die Wiese hinter dem Einkaufszentrum. Im Gebüsch kickt er einen aufgeweichten Turnschuh zu all dem anderen Müll. Hier stand einst eine Schule, jetzt sind hier noch Wände, Türschlunde, gespaltene Wandtafeln.
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Mehrere Dutzend Männer mit Erschöpfung im Blick halten die Hände über ein Feuer, Rauch frisst sich in die Kleider. Masken tragen sie nicht gegen Krankheit, sondern gegen das Erkanntwerden.
Flucht vor den Taliban
Die Männer sind geflohen aus Afghanistan. Einer, dessen Name nicht genannt werden soll, erzählt. Ein Foto auf seinem Handy zeigt ihn mit amerikanischen Soldaten: Er habe in Afghanistan für die USA gearbeitet.
Die Taliban hätten deswegen Geld von ihm gewollt, er habe Angst bekommen, sein Haus, sein Geschäft verkauft. Und sei geflohen. Zuerst nach Iran. Innerhalb eines Monats habe er Rumänien erreicht. Für 10'000 Dollar – mit Geld komme man schnell über jede Grenze.
Die zerfallene Schule sei ihm lieber als das Asylzentrum nebenan, dort gebe es kaum Platz, und Hilfe bekomme man auch nicht mehr als hier in der Schulruine. Am liebsten aber wäre ihm Westeuropa. Und dann die Frau, die vier Kinder nachholen. Noch ein Foto: Darauf sieht man ein verletztes Kind im Spital. Sein Kind, sagt unser Gesprächspartner – eine Bombe der Taliban sei schuld.
Ein Asylzentrum voller Dreck
Langgezogene Baracken, ein Zaun, an der Wand des Büros ein Bild, auf dem jemand betenden Muslimen einen Tritt verpasst: Wir sind im Asylzentrum nebenan.
Gabriel Vasilescu ist hier der Chef, er warnt vor dem Gestank, dort, wo die Asylsuchenden – man kann es nicht anders sagen – hausen. Vasilescu sagt, fast niemand putze hier, obwohl sein Personal Putzmittel und Lappen verteile.
Dreck ist in jeder Ritze, viele Betten sind kaputt. «Die Leute nehmen die Betten auseinander, um das Bettgestell als Leiter zu benutzen und damit über den Zaun zu klettern», sagt Gabriel Vasilescu.
Jeden Tag versuchen sie aufs Neue, illegal die Grenze zu überqueren.
In der Nacht darf man nicht raus aus dem Asylzentrum – genau dann aber holen die Schleuser ihre Kunden ab. Versuchen sie über die Grenze nach Ungarn, Richtung Westen, zu schmuggeln.
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Die rumänisch-ungarische Grenze ist nah in Timisoara, nicht einmal hundert Kilometer entfernt. Und der Weg nach Ungarn führt neuerdings viel häufiger über Rumänien, über Timisoara, weil die serbisch-ungarische Grenze dicht ist.
«Jeden Tag», sagt Zentrumschef Vasilescu, «versuchen sie aufs Neue, illegal die Grenze zu überqueren.» Die meisten Geflohenen kommen aus Afghanistan, es gibt aber auch Menschen aus Syrien und Bangladesch. Fast alle sind junge Männer.
200 Prozent mehr Geflüchtete
Eigentlich müssten die Geflüchteten in Rumänien Asyl beantragen und hier bleiben. Denn hier kommen die meisten von ihnen in der Europäischen Union an. Und das EU-Asylsystem schreibt vor, dass man in dem Land um Asyl bittet, in dem man die EU erreicht.
In Rumänien möchte aber fast niemand bleiben. Rumänien gibt bloss zehn Prozent der Menschen Asyl, die das wollen. Und Rumänien ist ein armes Land. Im Asylzentrum gibt es nur drei Euro pro Tag fürs Essen.
Im Hof stehen zwei Gerippe von Häusern, Zentrumschef Gabriel Vasilescu hat Geld von der EU bekommen, um sein Zentrum grösser zu machen. Allerdings sind die Preise für Baumaterialien so stark gestiegen, dass er die Verträge neu verhandeln muss; alles dauert länger.
Dabei erwartet Timisoara in den nächsten Monaten noch viel mehr Menschen, besonders, seit in Afghanistan die Taliban wieder die Macht übernommen haben.
Die Grenzpolizei schickt uns Zahlen: Allein in der ersten Jahreshälfte sind 9000 Geflüchtete nach Rumänien gekommen, 200 Prozent mehr als im selben Zeitraum des Vorjahres. 38 Schleuser, sagt die Polizei, habe sie dieses Jahr bis jetzt festgenommen.
Zähneputzen im Fluss
Menschen in Timisoara erzählen, dass in der wärmeren Jahreszeit hunderte Geflüchtete irgendwo draussen in der Stadt geschlafen, sich die Zähne im Fluss geputzt hätten. Eigentlich verteilt Rumänien «seine» Ankömmlinge auf sechs Zentren im ganzen Land. Aber das Zentrum in Timisoara ist das einzige, das in der Nähe von Rumäniens westlicher Grenze liegt, auf dem Weg nach Westeuropa.
Eigentlich müssten wir dringend eine gesamteuropäische Lösung finden.
Und so kommen die Geflüchteten aus dem ganzen Land immer und immer wieder nach Timisoara. Bürgermeister Dominic Fritz sagt, seine Stadt könne die Probleme, die das mit sich bringe, nicht allein lösen. «Wir brauchen Unterstützung von der Landesregierung. Eigentlich müssten wir sogar dringend eine gesamteuropäische Lösung finden.»
Wenn die Polizei Geflohene erwischt, die eigentlich in einem anderen rumänischen Asylzentrum, weit weg von Timisoara, sein sollten, schickt sie sie zurück. Wer sich umhört, bekommt Fotos von übel zugerichteten Männern mit Platzwunden zu sehen. Hört, dass Polizisten Migranten schlügen. «Aber Beschwerde legt keiner ein», sagt Flavius Loga. «Und so haben wir keine Ahnung, wie verbreitet Polizeigewalt ist.»
Dabei wäre Loga der Richtige, wenn ein Geflüchteter Beschwerde einlegen wollte. Logas Organisation ist nämlich fast die einzige private, die hilft in Timisoara. In ihrem kleinen Haus in der Stadt gibt es Duschen, Zahnpasta, frische Unterwäsche. Bis zu 40 Freiwillige verteilen für Loga Lebensmittel an die Geflohenen.
Ein gutes Leben in Rumänien
«Wer es als Geflüchteter schafft in Rumänien, kann sich ‹von› schreiben. Es ist schwierig hier», sagt Flavius Loga. Zum Beispiel fehlten Übersetzer. Deshalb verstünden die Richterinnen oft nicht, warum jemand in Rumänien Asyl wolle – und lehnten das Gesuch ab.
Und wenn jemand doch bleiben dürfe, könne er oft nicht arbeiten. Denn wer nicht acht Jahre Schulbildung habe, die der rumänischen Schulbildung entspreche, könne nicht einmal einen Führerschein machen, bekomme keine halbwegs anständige Arbeit.
Wer es als Geflüchteter schafft in Rumänien, kann sich ‹von› schreiben. Es ist schwierig hier.
Flavius Loga hat aber auch etwas Schönes zu erzählen. «Sehen Sie das Klebeband, mit dem wir den Kühlschrank zugeklebt haben?» Das sei nötig, weil der Imam der Moschee in der Stadt ein Lamm gespendet habe für die Geflüchteten – so viel Fleisch, dass es den Kühlschrank fast sprenge.
Überhaupt sei es überwältigend, nie dagewesen, wie viele Rumäninnen und Rumänen jetzt spendeten. Zum Beispiel habe eine keineswegs reiche rumänische Familie, die in Grossbritannien lebe, 1000 Euro gegeben. «Wir sind eben selbst ein Volk von Migranten, die im Ausland ein besseres Leben suchen. Deshalb haben wir Verständnis und Mitleid.»
Mujib Basim, unser afghanisch-rumänischer Führer, hat in Rumänien ein besseres Leben gefunden. «Ich mag Rumänien, es ist meine zweite Heimat», sagt er.
Mujib kam als Kind, seine Familie ist geblieben. Rumänisch lernte er innerhalb von sechs Monaten. Bald wird er Staatsbürger, wird Informatik studieren. So kann man auch in Rumänien gut leben.