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Migrationskrise im Mittelmeer «Brücke für legale Migration muss erweitert werden»

Flüchtlinge und Migrantinnen kommen im Vergleich zu früheren Jahren zwar in kleinerer Zahl vor der Küste Italiens an. Auch die Zahl der Asylanträge ist zurückgegangen. Dennoch gehört Italien zu den Ländern, die weltweit am meisten Asylanträge erhalten. Damit ist und bleibt das Asylsystem in Italien stark belastet.

Unter Matteo Salvini wurde Italiens Asylrecht deutlich verschärft. Die neue Ministerpräsidentin Giorgia Meloni scheint nun davon Gebrauch zu machen. Migrationsexperte Christopher Hein kritisiert das Vorgehen. Er fordert: Menschen in Seenot muss geholfen werden – und es braucht mehr Möglichkeiten für legale Migration.

Christopher Hein

Migrationsexperte

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Christopher Hein ist Dozent für Asyl- und Migrationsrecht an der Luiss-Universität in Rom und Gründer der NGO «Consiglio Italiano per i Rifugiati».

SRF News: Vor Catania wartet ein deutsches Rettungsschiff immer noch darauf, dass die letzten 35 Personen an Land gehen dürfen. Die anderen gut 140 konnten nach einigem Hin und Her an Land gehen. Wie beurteilen Sie die Situation?

Christoph Hein: Die Unterscheidung zwischen denjenigen, die eher bedürftig als andere auf dem Schiff sind, hat keine Grundlage. Weder im Völkerrecht noch im europäischen Recht. Gemäss Völkerrecht benötigen alle Menschen, die in Seenotrettung an Bord eines Schiffes genommen werden, sofortige Hilfe. Ich hoffe, dass die italienischen Gerichte Klarheit schaffen: Alle Menschen, die gerettet worden sind, müssen die Möglichkeit haben, in einen sicheren Hafen einzulaufen.

Seenotretter schalten in Italien Gerichte ein

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Die deutsche Rettungsorganisation SOS Humanity geht juristisch gegen eine Entscheidung der italienischen Behörden vor, 35 Migranten im Hafen von Catania nicht an Land zu lassen. Das teilte die Sprecherin des Vereins, Petra Krischok, mit. Über einen italienischen Anwalt sei bei einem Gericht in der sizilianischen Stadt ein Asyl-Eilantrag für die Migranten gestellt worden, die auch zwei Tage nach der Einfahrt in den Hafen von Catania immer noch auf dem Schiff «Humanity 1» bleiben mussten.

Zunächst schien es, als liesse die neue Regierung Kinder und Frauen ins Land, Männer aber nur selten. Heute ist zu vernehmen, dass deutsche Seenotretter in Reggio Calabria im Süden Italiens 89 Menschen an Land bringen konnten. Offenbar ohne grössere Probleme. Wie erklären Sie sich das?

Es handelt sich um ein kleineres Rettungsschiff. Darauf sind überwiegend Frauen und Kinder und nur einzelne Männer. Es gibt keine klare Linie. Es ist zweitrangig, ob es sich um Migranten oder Asylbewerber handelt. Es geht um Menschen, die aus einer Seenotlage gerettet worden sind. Die Rettung ist erst abgeschlossen, wenn sie in einen Hafen einlaufen und dort von Bord gehen können.

Es ist nur eine sehr kleine Minderheit, die nach Europa kommen will.

In Sizilien machte kürzlich ein Fall Schlagzeilen, bei dem ein Migrant eine Polizistin niederschlug und sie vergewaltigte. Lokal kippte die Stimmung. Italien kämpft auch sonst mit vielen strukturellen Problemen und hat viele Migrantinnen und Migranten aufgenommen. Wie sieht aus Ihrer Sicht eine Lösung im grösseren Rahmen aus?

Es ist nicht normal, dass seit vielen Jahren Zehntausende Menschen keine andere Wahl haben nach Europa zu kommen, als Schlepper zu bezahlen und ihr Leben zu riskieren. Entweder auf dem Mittelmeer oder schon vorher, wenn sie die Sahara durchqueren müssen.

Italienische Polizisten vor Migranten, die aus Seenot gerettet wurden und in Kalabrien angelandet sind.
Legende: Italienische Polizisten vor Migranten, die aus Seenot gerettet wurden und in Kalabrien angelandet sind (8. November). Keystone/EPA/Marco Constantino

Insofern ist meine Grundforderung diejenige, die auch von der EU-Kommission häufig gemacht wird – auch wenn hinterher wenig Taten folgen: Die Brücken für eine legale Einreise müssen erweitert werden, sowohl für Flüchtlinge als auch für Arbeitsimmigranten.

Kritiker sagen dazu, Afrika sei ein grosser Kontinent und auch in Asien gebe es viele Probleme. Das Argument: Europa kann nicht alle aufnehmen, die gerne kommen möchten und das Leben führen würden, das wir hier in Europa führen.

85 Prozent der Flüchtlinge auf der Welt leben in den Anrainerstaaten ihres Herkunftslandes. Seit vierzig Jahren gibt es Flüchtlingsströme aus Afghanistan heraus. Die Menschen gehen überwiegend in die beiden Nachbarländer Iran und Pakistan. Dasselbe gilt für afrikanische Staaten oder Venezuela. Es ist nur eine sehr kleine Minderheit, die nach Europa kommen will.

Das Gespräch führte Ivana Pribakovic.

Rendez-vous, 08.11.2022, 12:30 Uhr ; 

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