Es ist erst sechs Tage her, als Kremlkritiker Oleg Orlow seinen Fuss auf deutschen Boden setzte – nach einem halben Jahr hinter Gittern. Weitere zwei Jahre hätte der 71-Jährige noch absitzen müssen, wäre er nicht im grössten Gefangenenaustausch zwischen Russland und dem Westen seit dem Kalten Krieg freigekommen.
Nun hat der Moskauer Menschenrechtler, der wegen Kritik an der russischen Armee im Haft gesteckt hatte, in Berlin eine Medienkonferenz abgehalten. Er will seine Arbeit bei der von ihm gegründeten Organisation Memorial fortsetzen, verkündet er. «Memorial kann man nicht zerstören.»
Orlow gehörte zu insgesamt 26 Gefangenen, die zwischen Russland und westlichen Staaten ausgetauscht wurden: 16 aufseiten des Westens, darunter «Wall Street Journal»-Journalist Evan Gershkovich oder andere namhafte Kreml-Kritiker wie Ilja Jaschin, Wladimir Kara-Mursa oder Andrej Piwowarow. Im Gegenzug gingen 10 westliche Gefangene an Russland, darunter «Tiergartenmörder» Wadim Krassikow.
Angst vor der Bedeutungslosigkeit
Seit sie frei sind, stellt sich unweigerlich die Frage: Was können die russischen Oppositionellen im Exil gegen Putins Regime ausrichten? Nicht viel, sagt Björn Blaschke, ARD-Korrespondent für Russland. Sogar «deutlich weniger» als zu der Zeit, als sie noch im Gefängnis waren. In Haft seien sie wenigstens, aber immer wieder und «selbstverständlich kremlkonform», durch die russische Presse gegangen, erklärt Blaschke. Doch nun würden sie weniger Beachtung in Russland finden.
Dem sind sich die Freigelassenen bewusst. Jaschin selbst hatte angetönt, dass er lieber im Gefängnis geblieben wäre, anstatt im Exil zu landen. Auch Orlow sagte an der Medienkonferenz in Berlin, er wäre lieber in seiner Heimat geblieben. Sie alle hätten Angst vor einem Bedeutungsverlust, sagt Blaschke.
Bislang ist die russische Opposition weit davon entfernt, Wladimir Putin gefährlich zu werden. Die Oppositionellen im Ausland sind zerstritten, fallen in Telegram-Kanälen übereinander her.
So musste jüngst Jaschin Kritik einstecken, als er kurz nach seiner Freilassung forderte, dass in der Ukraine die Waffen zwischen den beiden Kriegsparteien möglichst bald schweigen sollen, um verhandeln zu können. Jaschin musste daraufhin seine Worte relativieren.
Jaschin als neue Gallionsfigur
Wollten die Oppositionellen vom Exil aus etwas gegen Putins Regime in Bewegung setzen, so müssten sie sich «zusammenraufen». Es gibt bereits erste Gerüchte, dass Ilja Jaschin mit den Mitarbeitenden des laut Kreml-Angaben in Haft verstorbenen Alexej Nawalny zusammenarbeiten werde.
Das Nawalny-Lager hätte ein grosses Interesse daran, sagt Blaschke, auch deshalb, weil die Witwe Nawalnys, Julia Nawalnaja, die Lücke nach seinem Tod bis jetzt nicht habe füllen können.
«Ich weiss nicht, ob es tatsächlich dazu kommen wird», sagt ARD-Korrespondent Blaschke. Zudem bedeute ein solcher Schulterschluss auch nicht, dass alle anderen Oppositionellen geeint hinter ihnen stehen würden.
Zurzeit sieht Björn Blaschke noch keine geeinte russische Opposition. Und doch sei es Ilja Jaschin, der tatsächlich das Potenzial habe, die zerstrittenen Oppositionellen hinter sich zu scharen und in Nawalnys Fussstapfen zu treten.