Bei den Parlamentswahlen hat die schottische Nationalpartei SNP das absolute Mehr verpasst. Zusammen mit den Grünen, die ebenfalls für die Unabhängigkeit sind, hat sie aber eine klare Mehrheit. Letztlich muss jedoch die Regierung in London einem schottischen Referendum zustimmen. Schottland-Expertin Sigrid Rieuwerts glaubt, Premierminister Boris Johnson habe die Tür dafür nicht kategorisch zugestossen.
SRF News: Wie kurz steht Schottland vor einem erneuten Referendum?
Sigrid Rieuwerts: Das Ergebnis muss heute zwar erst noch bestätigt werden. Aber ich würde sagen: Sie sind wesentlich näher dran an einer Abstimmung über die Unabhängigkeit Schottlands als noch vor den Wahlen vom letzten Donnerstag. Die SNP hat zwar kein absolutes Mehr bekommen, aber das ist eine Schlagzeile, die so nur ausserhalb Schottlands wahrgenommen wird.
Der Erfolg von Nicola Sturgeon und ihrer Partei ist ganz gewaltig.
Denn Schottland hat ein ganz anderes Wahlsystem. Man braucht fast 90 Prozent aller Stimmen, um die absolute Mehrheit zu bekommen. Das ist nur ein einziges Mal passiert, anno 2011. Die SNP hätte dazu 65 Mandatsträger gebraucht. Sie hat nun 64. Deshalb ist der Erfolg von Nicola Sturgeon und ihrer Partei ganz gewaltig. Und zusammen mit den Grünen hat sie 15 mehr, um die Gesetzesvorlage für ein Unabhängigkeitsreferendum durchzubekommen.
Einer zweiten Abstimmung über die Unabhängigkeit Schottlands muss die britische Regierung zustimmen. Diese Hürde steht also weiterhin im Weg?
Ja. Man hat zwar zusammen mit den Grünen die Mehrheit der Abgeordneten im schottischen Parlament hinter sich. Nur: Die Gesetzesvorlage allein bringt nichts, weil sie im schottischen Parlament mehrere Hürden nehmen muss. Nicht alles darf zur Abstimmung kommen. Schon vorher gibt es zwei Instanzen, die bestimmen müssen, ob eine Vorlage zugelassen wird.
Es ist nicht ausgeschlossen, dass es tatsächlich irgendwann zu einem zweiten schottischen Unabhängigkeitsreferendum kommt.
Nehmen wir mal an, es kommt dazu. Dann muss Johnson noch sagen: Ja, wir wollen das. Ein anderer Weg ist: Man einigt sich mit dem Parlament in London oder mit der Regierung schon vorher und sagt, wir vertreten hier den erklärten Willen der schottischen Bevölkerung. Nun gebt uns das Recht, ein Referendum auszurufen. Und dann sagt der Premierminister: Nein, das mache ich nicht.
Am Samstag hat Johnson gesagt, es wäre unverantwortlich und leichtsinnig, dieses Referendum durchzuführen. Und trotzdem hat er es nicht explizit ausgeschlossen. Haben Sie das auch so verstanden?
Ja. Das hat sogar sein Minister Michael Gove gestern in der Show von Andrew Marr nochmals bestätigt, als er sagte, man werde nicht gerichtlich dagegen vorgehen wollen. Es ist also nicht ausgeschlossen, dass es tatsächlich irgendwann zu einem zweiten schottischen Unabhängigkeitsreferendum kommt. Denn Sturgeon beharrt darauf, dass jedes demokratisch aufgestellte Land das Recht haben sollte, sich selbst zu regieren. Alles andere habe diktatorische Züge. Diesen Vorwurf will sich natürlich auch Johnson nicht gefallen lassen. Darum denke ich, man wird versuchen, eine Lösung zu finden. Vielleicht will man noch ein paar Jahre abwarten, aber das will die SNP nicht.
Der Kampf ist also schon programmiert...
Ja. Aber Sturgeon ist eine sehr besonnene Regierungschefin. Das hat sie in den letzten Jahren bewiesen. Sie ist auch eine sehr gute Krisenmanagerin in der Corona-Pandemie. Und deshalb wird sie nun sowieso nicht sofort alle Schalter umlegen und sagen: «Wir ziehen jetzt los, denn wir wollen das Referendum noch heute.» Wir müssen uns also erst einmal gedulden.
Das Gespräch führte Barbara Peter.